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Die Söhne.

Die Söhne.

Titel: Die Söhne. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feuchtwanger
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daß ihr habt zusehen müssen, wie Jerusalem zerstört wurde?«
      Josef dachte ärgerlich: Wo immer Minäer sind, sprechen sie vom zerstörten Jerusalem. Ohne das zerstörte Jerusalem gäbe es sie nicht.

    Jakob entfernte sich bald, er wollte zurück in sein Dorf Sekanja. Josef, nachdem er gegangen war, fragte Ben Ismael: »Was ist es, mein Doktor und Herr, das Sie an der Lehre der Minäer anzieht? Denn was dieser Mann las, ist ärmlich, und dennoch hörten Sie mit Hingabe zu.«
      Ben Ismael erwiderte: »Ich glaube, Doktor Josef, wir sind zu überheblich; ich schäme mich des Dünkels auf unser Wissen. Diese suchen Gott einfältigen Sinnes und auf geradem Weg. Manchmal ist mir, als kämen sie Jahve näher als wir mit unserer verschlungenen Gelehrsamkeit. Und dann halten diese die Tür zu Jahve offen für alle Welt, während unsere Riten den Zugang zu ihm immer enger und schwieriger machen.«
      »Ich glaube, ich sehe, was Sie meinen«, überlegte Josef. »Aber wie wirklich soll man es in Jabne halten, nachdem die Römer die Beschneidung verboten haben? Was soll man anfan gen mit einem Heiden, der zu uns herüber will? Soll man ihm raten, die Beschneidung zu unterlassen und Todsünde zu begehen? Oder soll man ihn beschneiden und heraufbeschwören, daß die Römer Bekehrer und Bekehrten töten? Liegt es nicht an dem Zwang von außen, wenn die Riten immer enger und nationalistischer werden?«
      »Es gibt Leute«, sagte der Acher, »denen das Verbot der Beschneidung sehr gelegen kam. Der Großdoktor, glaube ich, sah es nicht ungern. Es war ihm ein guter Vorwand, die Lehre zu verengern.«
      »Ich bin überzeugt«, eiferte die heftige Channah, »am liebsten hätte er selber die Römer gebeten, dieses Verbot zu erlassen. Er hat Furcht vor den Proselyten. Er möchte sie fernhalten. Er hat Furcht vor allem Neuen, das in die Lehre einströmen könnte. Ehe er Neues hineinnimmt, interpretiert er hinaus, was noch an Tiefe und Reichtum in der Lehre ist. Kahl und arm will er sie haben, übersichtlich. Ihre Gläubigen sollen eine einzige, große Herde sein, bequem zu hüten, einer brav wie der andere, einer wie der andere gestutzt, geglättet und gestriegelt. Und er ist der Hirt, und das Kollegium ist der Hund, und wer nicht pariert, wird geschlachtet.«
      Ben Ismael strich mit der langen Hand über die kahle Stirn, zupfte mit mechanischer Bewegung an seinen Brauen, sie glättend. »Schilt nicht ins Blaue, liebe Channah«, bat er. »Das Amt des Großdoktors ist schwer. Wir haben die Neigung, uns zu vergießen über die ganze Erde. Es muß einer dasein, der uns zusammenhält.«
      »Da hören Sie ihn, Doktor Josef«, klagte Channah. »Er verteidigt noch den, der ihn schlägt. Ja, die Einheit der Lehre ist da, der eiserne Rahmen ist da, der das Gesetz zusammenhält, aber er ist so eisern und eng, daß er alles totpreßt, was an der Lehre lebendig ist. Sie wissen von jenem Versöhnungstag, Doktor Josef? Da hat Ben Ismael den eisernen Rahmen zu spüren bekommen.«
      »Bleib vernünftig, Channah«, mahnte die tiefe Stimme Ben Ismaels. »Es gibt kein Mittel, das Judentum zusammenzuhalten, außer der strengen Gemeinsamkeit der Bräuche und Werke. Man muß jeden einzelnen immerzu daran erinnern, vom Morgen bis zum Abend, daß jetzt mit ihm zusammen fünf Millionen andere den gleichen Gott anbeten. Er muß spüren, immerzu, daß er ein Teil dieser fünf Millionen und ihres Geistes ist. Wenn nicht, dann zerfällt das Volk und verschwindet.« – »Und jetzt ist über den Bräuchen und Werken der Sinn und der Glaube verschwunden«, konstatierte bitter der Acher.
      »Vergeßt nicht«, beschwichtigte Ben Ismael, »daß Gamaliel bisher keine einzige Äußerung gegen die Minäer getan hat. Sie feiern die Feste mit uns, sie gehen in die Synagogen, nichts und niemand wird unrein durch ihre Berührung. Sooft die Kollegen Helbo oder Jesus oder Simon der Weber im Rat die Frage anschneiden, wer alles unter den Begriff ›Leugner des Prinzips‹ fällt, niemals äußert Gamaliel ein Wort, sie zu unterstützen. Wenn heute die Lehre der Christen bloß als ›Abweichung‹ gilt und nicht als ›Leugnung des Prinzips‹, dann ist es allein ihm zu danken; denn jeder weiß, daß die Reden der Herren Kollegen nur auf die Minäer hinzielen. Aber er läßt sie reden und zieht keine Folgerungen daraus. Gamaliel liebt die Christen nicht, aber, das muß man ihm lassen, in dogmatischen Fragen denkt er liberal, liberaler vielleicht als ich.«

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