Die Söhne.
– »Weil er nichts davon versteht«, konstatierte der Acher.
Channah aber richtete sich hoch. »Ich will euch genau sagen, wie es kommen wird«, erklärte sie, »Ihnen, Doktor Jannai, und dir, mein Ben Ismael, und ich rufe diesen Doktor Josef zum Zeugen an, daß er meine Worte bestätige, wenn sie eingetroffen sind. Die Herren Helbo und Jesus und Simon der Weber werden noch oftmals im Kollegium darüber diskutieren, wo die ›Leugnung des Prinzips‹ beginnt und wo sie aufhört, und alle werden wissen, daß diese Reden auf die Minäer gemünzt sind, und niemand wird sie ernst nehmen und Folgerungen daraus ziehen. Aber wenn erst Gamaliel mit seinem Rahmen um das Gesetz fertig ist, dann wird er darangehen, mit diesem Rahmen auch die Lehrmeinungen totzuschlagen, die ihm nicht passen. Und dann werden auf einmal die Diskussionen über die ›Leugnung des Prinzips‹ mehr sein als theoretisches Geschwätz. Ich kenne meinen Bruder. Ich kenne ihn besser als ihr. Ich kenne ihn aus der Zeit, da er ein kleiner Junge war, und ich habe es erlebt, wie er auf jeden einschlug, der ihm nicht seinen Willen tat. Er liebt die Minäer nicht. Ich weiß nicht, auf welche Art er gegen sie vorgehen wird. Aber daß er es tun wird, das weiß ich, und sicher sehr anders, als es irgend jemand erwartet.« Channah sprach nicht laut, aber sie betonte jede Silbe.
»Alle meine Freunde«, erwiderte, jetzt etwas heftiger, Ben Ismael, »sind froh, daß die Minäer in der Welt sind. Es ist gut, daß Jahve den Doktoren nicht allein gehört, und es ist gut, daß Jahve den Juden nicht allein gehört. Und daß diese Erkenntnis in der Welt bleibe, dafür ist die Lehre der Christen gut. Niemals werden wir erlauben, daß ein Antrag gegen sie durchgeht.«
»Natürlich werdet ihr euch sträuben, mein Lieber«, erwiderte mit grimmiger Ruhe Channah, »sehr heftig und mit triftigen Argumenten werdet ihr euch sträuben. Aber dann wird Gamaliel wieder von der Einheit der Lehre zu reden anfangen, und am Schluß wirst du einen zweiten Versöhnungstag feiern.«
»Niemals«, sagte Ben Ismael. Seine schönen, milden Augen waren fanatisch geworden, und sein tiefes Niemals füllte lange den Raum.
»Wenn man seine Stimme hört«, grollte Channah, aber durch ihren Groll hörte Josef ihre Bewunderung und ihre Neigung, »dann glaubt man, er bleibe unerschütterlich. Aber am Ende kommt doch alles, wie Gamaliel es will. Dieser da«, wandte sie sich an Josef, auf den Acher weisend, »ist zu hitzig, und dieser mein Mann weiß zuviel, und zuviel Wissen macht unfähig zum Widerstand. Mein Bruder versteht nichts, aber er weiß, was er will, und steckt sie alle mit dem Finger einer Hand in die Ärmel seines Kleides.«
»Noch nicht zwanzig von den zweiundsiebzig Mitgliedern des Kollegiums würden einen Antrag gegen die Minäer unterstützen«, sagte ruhig Ben Ismael. »Weil der Großdoktor ihn noch nicht unterstützt«, eiferte Channah, »weil er neutral bleibt. Laßt ihn erst sein Gesicht zeigen, und ihr werdet sehen.«
Josef schaute von der kahlen, mächtigen Stirn des Ben Ismael auf Channahs bewegtes Antlitz. Noch hatte er das tiefe Niemals Ben Ismaels im Ohr. Dennoch schien ihm, als sehe die Erbitterung Channahs weiter als die milde Zuversicht ihres Gatten.
Channah wandte sich jetzt an ihn. »Es gibt ein Mittel«, sagte sie, »den Sinn und die Vielfalt der Lehre zu erhalten und sie vor übler Nationalisierung zu schützen. Sie können uns helfen, Doktor Josef. Helfen Sie.«
Josef wandte ihr ein höfliches Gesicht zu, aber in seinem Herzen war Unbehagen. Wie sollte er diesen helfen? Was wollte man von ihm?
Channah sprach weiter: »Die Römer dulden unsere Schulen hier in Lud, aber sie anerkennen nicht die Autorität unserer Lehren und Beschlüsse. Jabne kann von einem Tag zum andern unsere Anstalten sperren. Sie haben Einfluß beim Gouverneur, Doktor Josef. Erwirken Sie, daß Rom der Schule von Lud in religiösen Fragen die gleiche Autorität zuerkennt wie der Universität Jabne. Dann ist die Despotie meines Bruders gebrochen, und für die Gebildeten unter den Juden ist griechische Dichtung und Weisheit, für die Massen die Lehre der Minäer gerettet.«
Josefs erstes Unbehagen verwandelte sich in eine große Betretenheit, fast in Schreck. Wieder schob man ihm Entschlüsse zu, Verantwortung. Er war gekommen, sich in Judäa neue Kraft zu holen für sein Wirken in der Fremde. Jetzt verlangte Judäa Kraft von ihm, dem
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