Die Sonnwendherrin
normal. »Du?«, fragte sie. »Du willst mir einen Spitznamen geben?«
»Sicher«, sagte er. »Warum nicht?«
Sie zögerte. »In Ordnung«, sagte sie schließlich. »Aber – warum holst du nicht zuerst das Netz? Onkel Leschy wird böse sein, wenn ich dich aufhalte, weißt du?«
»In diesem Fall«, schlug Iwan vor, »denkst du darüber nach, welche Art von Spitznamen du gern hättest, während ich das Netz hole!«
Zweifel stand in ihren Augen. Und auch Staunen, das durch den Wahnsinn hindurchfunkelte wie ein Stern an einem Sturmhimmel. »Also gut«, sagte sie dann. »Aber steck deinen Arm nicht ganz hinein! Das Netz liegt nahe bei der Öffnung. Und tiefer drinnen lauert der – der Handfänger!« Wieder lachte sie. Diesmal aber nicht so lange wie zuvor.
»Dein Spitzname!«, erinnerte Iwan sie. »Denk an deinen Spitznamen.«
Er trat vor und fasste in das klaffende Loch im Baum. Oksana hatte recht. Das Netz befand sich nahe bei der Öffnung. Es war so fein, dass es fast ätherisch wirkte, wie ein Hauch warmer Luft. Es war ein seltsames Gefühl, so etwas in der modrigen Kälte des Moors zu berühren.
Er versuchte gar nicht erst, weiter hineinzugreifen. Er nahm das Netz heraus und barg es in seiner Faust. Dann wandte er sich Oksana zu.
Die saß mit ausdrucksloser Miene auf dem Boden.
»Oksana!«, rief er. »Hast du dir einen Spitznamen ausgedacht?«
|60| Sie blickte überrascht zu ihm auf. »Ich habe keinen Spitznamen«, sagte sie geistesabwesend.
»Warum lassen wir uns dann keinen einfallen? Wie hat dich deine Mutter genannt?«
Sie sah ihn groß an. Dann warf sie den Kopf zurück, und ihr Körper bebte in einem betäubend lauten Lachanfall.
Iwan wartete ab. Er sah nicht weg.
|61| Marja
Ich folgte meinem Retter in die warme Dunkelheit hinter der geöffneten Tür. Einen Moment später hörte ich, wie er ein Zündholz anriss, und weiches, rötliches Licht floss von seinen Fingern in eine Laterne, die auf dem Tisch stand.
Es war ein gemütliches Zimmer mit einem kleinen Fenster, dessen Gardine zugezogen war, einem Waschbecken in der Ecke und einem einigermaßen großen Bett. Es gab sogar Laken aus einfachem, sonnengebleichtem Leinen, und aus der Unterlage sah ich Wolle quellen, die mit dem üblichen Stroh vermischt war. Mein neuer Bekannter reiste offensichtlich gern stilvoll.
Ich blickte mich hilflos um und raffte meinen Schal enger um mein zerrissenes Kleid.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte er sanft. »Möchtest du, dass ich hinausgehe?«
»Nein«, flüsterte ich. »Es wäre mir lieber, wenn Ihr bei mir bleibt
...
Herr.«
Ich sah ihm lange in die Augen und bemerkte in ihren dunklen Tiefen einen neuen Funken Interesse aufglimmen. Der wiederum entzündete in meiner Brust eine wachsende Erregung. Der Kontakt war hergestellt. Alles, was ich jetzt noch tun musste, war, mit diesem Funken ein Feuer zu entfachen. Und hoffen, dass er so gut war, wie es sein Aussehen versprach.
»Ich heiße Kirill«, stellte er sich vor.
Ich sah ihn an, als könne ich mich nicht entscheiden, ob ich ihm trauen durfte oder nicht.
|62| »Ich heiße Dascha«, sagte ich schließlich.
»Nun, Dascha«, nahm er das Gespräch auf, »warum setzt du dich nicht auf das Bett? Ich nehme mir diesen Stuhl dort.«
Ich trat zum Bett und blieb hilflos davor stehen, als würde mir in diesem Moment erst klar, welchem Problem ich mich als Nächstes gegenübersehen würde. Ich blickte auf mein zerrissenes Kleid hinab. Dann hob ich den Blick und sah ihm ängstlich in die Augen.
Einen Augenblick später bemerkte er mein Problem.
»Ich kann dir mein Reservehemd anbieten«, sagte er zögernd. »Und vielleicht wäre es doch besser, wenn ich dich allein ließe.«
»Nein, Kirill
..
.
«, hauchte ich bittend. »Diese Männer – sie haben gesehen, wohin wir gingen. Ich fürchte mich, wenn ich hier allein bleibe! Sie werden mich finden!«
Er sah mich mit einem freundlichen Lächeln an. »Diese Trunkenbolde haben dich viel zu sehr erschreckt, armes Kind«, sagte er. »Also gut. Ich bleibe hier bei dir. Ich werde eben einfach – wegsehen.«
Wieder trafen sich unsere Blicke, diesmal ein wenig länger. Es war an der Zeit, unter der Maske der Unschuld ein wenig die Frau hervorblicken zu lassen. Ich gab meiner Stimme einen etwas tieferen Klang und sagte: »Danke, Kirill! Ich fühle mich so sicher bei Euch.«
Verführung ist das einzige Liebesspiel, das mir erlaubt ist, und ich genieße es sehr. Ich spiele gern mit den Schwächen des
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