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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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der Welt sei. Wie betäubt stand ich da, blickte auf mein Spiegelbild und betrachtete mein Gesicht, das auf mich niemals besonders attraktiv gewirkt hatte. Ein schmales, blasses Oval, neben dem mein schwarzes Haar, die kirschroten Lippen und die grünen Augen zu leuchtend wirkten. Die Schönste? Hmmm
...
    Praskowja war an diesem Tag zu mir gekommen, um mich anzukleiden, und ihre Miene war ungewöhnlich ernst. Sie holte ein schwarzes Seidenkleid hervor, das ich noch niemals getragen hatte.
    »Dein Vater wünscht dich zu sehen, Marja«, sagte sie.
    Meinen Vater besuchte ich regelmäßig im Thronsaal, wo er von seinem hochlehnigen Stuhl aus rabenschwarzem Holz beobachtete, wie ich zu ihm ging, und dann tätschelte er meinen Kopf mit einer kühlen Hand. Es war nichts Ungewöhnliches an diesem Wunsch. Und doch berührten mich Praskowjas Worte auf eigenartige Weise. Etwas hatte sich verändert. Aber was nur?
    Ich war hinter Praskowja die Wendeltreppe hinabgestiegen und ihr durch die engen gemauerten Gänge des alten Schlosses gefolgt. Ihre gleichmäßigen Schritte wurden nicht langsamer, als wir um jene Biegung kamen, hinter der eine weitere Treppenflucht in die Gemächer meines Vaters führte. Ich wollte ihr die Frage stellen, die mir auf den Lippen brannte, doch ich ließ es bleiben. Die Sonnwendherrin sagt |110| nichts Belangloses. Ich war sehr gut auf meine wichtige Rolle vorbereitet.
    Sollte ich etwa heute in meine Aufgaben eingeführt werden?
    Aber was war dann mit der bisherigen Herrin geschehen? Hatte sie sich der Macht der Liebe ergeben?
    Der schmale Gang erweiterte sich zu einem breiten Korridor, und dann standen wir vor einer schweren, metallbeschlagenen Doppeltür. Praskowja hob die Hand, um zu klopfen, doch die Türflügel schwangen von allein auf. Mein Vater stand vor uns.
    Er wirkte noch prachtvoller, als ich ihn sonst gesehen hatte.
    Er nickte Praskowja zu, die sich verbeugte und den Korridor hinabglitt, ohne mich noch einmal anzusehen.
    »Komm herein, Marja«, lud mich mein Vater ein.
    Er wartete, bis ich eingetreten war, und schloss die Tür hinter mir. Ich stand steif da und bemühte mich, nicht neugierig zu wirken, aber dies war das erste Mal, dass ich Vaters Gemächer betrat, und trotz meiner Furcht war ich natürlich gespannt.
    Das Gemach war genauso einfach eingerichtet wie meines: eine Holzbank, ein Schreibtisch mit einem großen Tintenfass und einem Stapel Pergamentbögen an der Seite; ein Regal mit dicken, ledergebundenen Büchern, die alle Merkmale jahrhundertelangen Gebrauchs aufwiesen. Ein Bett war nicht vorhanden. Doch dann bemerkte ich eine Seitentür, die sicherlich in einen weiteren Raum führte. Ich musste mich beherrschen, um nicht den Hals zu verdrehen, damit ich um die Ecke schielen konnte.
    Überrascht wurde mir bewusst, dass mein Vater ganz nah hinter mir stand. Ich spürte seinen kühlen Atem in meinem Nacken.
    »Man hat mir berichtet«, hatte mein Vater damals gesagt, |111| »dass du nun zu einer Frau herangewachsen bist. Zur schönsten Frau der Welt.«
    Seine Hand wischte eine Haarsträhne fort, die mir ins Gesicht hing. Seine Finger so nahe an meiner Haut zu spüren, erschien mir wie eine Flutwelle purer Energie. Ich zitterte.
    »Ich glaube«, fuhr mein Vater fort, »es ist an der Zeit, dich eines der wichtigsten Dinge zu lehren, die du als künftige Sonnwendherrin beherrschen musst.«
    Seine Hand kam noch näher und streichelte sanft über meinen Hals. Ich stand ganz steif da, blickte starr geradeaus und kämpfte gegen die Schauer an, die meinen Körper süß umarmten.
    »Heute wirst du den Unterschied zwischen Liebe und Sinnlichkeit lernen«, erklärte mir mein Vater.
    Er trat vor mich und nahm mein Gesicht in beide Hände. Sie waren kühl und glatt und dämmten das Feuer ein, das langsam in mir aufloderte. Ich musste all meine Kraft aufwenden, um seiner Liebkosung nicht auf gleiche Weise zu antworten.
    »Denke daran«, fuhr mein Vater fort, »dass du als Sonnwendherrin niemals lieben darfst! Du musst vor allem lernen, dieses Gefühl zu beherrschen! Es wird versuchen, sich in deine Seele einzuschleichen, und dabei wird es die Sehnsucht deines Körpers nach einem Mann benutzen. Du wirst lernen, diese Gefühle auseinanderzuhalten. Dein Körper wird versuchen, dir einzureden, dass es nur einen einzigen Mann gibt, den du haben willst. So fängt die Liebe an.«
    Während er sprach, berührten mich seine Hände: zuerst mein Gesicht, dann mein Haar, meinen Hals, meine Schultern
...
Er

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