Die Sonnwendherrin
hatte eine alte Silberschale gestanden, seines Vaters wertvollstes Besitzstück, die zwischen den reichhaltigen, wunderbar gearbeiteten Ziselierungen einen ähnlichen Schimmer aufgewiesen hatte. Der Krug, den er nun in Händen hielt, war nicht verziert, wirkte jedoch furchterregend schön und womöglich noch älter als der Schatz seines Vaters.
Das Wasser spritzte nicht, als es auf die staubige Keramikfläche der Schüssel traf. Es füllte die Schüssel vielmehr mit der Selbstverständlichkeit eines Körpers aus, der in einem |106| wohlvertrauten Sessel Platz nimmt. Das Wasser
gehörte
hierher! Und als es aus dem Krug floss, wurde dieser dabei keineswegs leerer.
Iwan füllte also die Schüssel bis zum Rand und stellte den Krug vorsichtig ab.
»Jetzt sieh hinein!«, befahl der Wolf. Er stützte seine Vorderpfoten auf den Tisch und beugte sich gemeinsam mit Iwan über die unbewegte Wasseroberfläche.
Zuerst war alles dunkel. Im Mondschein vom Fenster her bildete Iwan sich sogar ein, ihre Spiegelbilder im Wasser erkennen zu können, wenn sie sich auch kaum von der Düsternis des leeren Zimmers abhoben. Dann wurden die Flecken des Mondscheins lebhafter und begannen, die Schüssel mit ihrem silbernen Glühen auszufüllen. Und dann
...
Iwan verpasste den Augenblick, in welchem sich die im Wasser spiegelnden Umrisse zu einem einheitlichen Bild zusammenfügten. Plötzlich war da ein Feld unter der Nachmittagssonne zu sehen, und im Hintergrund ein großer Baum. Eine Brise ließ das hohe Gras flattern, und so wirkte das Feld wie ein von grünem Wasser gefüllter See.
Das Bild verschob sich. Sie folgten ihm über das Gras bis zu dem gigantischen Baum. Iwan vermochte nun den Feldrain zu erkennen, der sich in einer unregelmäßigen Linie an einem Felsen entlangzog. Weit unten im Tal war ein Bach zu sehen. Und noch etwas Weißes, das eigenartigerweise dem Haufen Hühnerknochen auf dem Tisch ähnelte.
Iwan atmete tief durch und trat von der Schüssel zurück. Die Vision verblasste.
»Aha«, sagte der Wolf bedächtig und wandte den mächtigen Schädel, um aus dem Fenster zu blicken. »Es ist also die Katze.«
Er machte einen Satz vom Tisch weg und trottete zur Tür. Hinter ihm stieg Dampf von der Wasseroberfläche in der Schüssel auf, milchig wie der Nebel, der sich in den frühen |107| Nachtstunden über dem Wasser bildet. Dann war die Schüssel mit einem Mal wieder trocken und von Staub bedeckt, als habe sie seit langer, langer Zeit niemand mehr berührt.
Iwan fand seine Stimme wieder. »Was meinst du mit der Katze?«, fragte er.
Der Wolf warf ihm einen bedächtigen Blick zu. »Komm, Junge«, sagte er dann. »Wir haben einen langen Weg vor uns und nicht viel Zeit.«
Iwan folgte dem Tier zur Tür. Er wusste, wann man besser nicht mit ihm stritt. Doch kurz vor der Tür blieb der Wolf so unvermittelt stehen, dass Iwan beinahe auf ihn geprallt wäre.
»Was ist los?«, flüsterte Iwan.
»Wenn wir die Tür öffnen und hinausgehen, dann folge dem Pfad zum Tor und weiter in Richtung des Waldes. Was du auch tun magst, verlasse diesen Pfad nicht! Renne nicht weg, ganz gleich, welche Gefahr du kommen siehst. Und das Wichtigste:
Schau dich nicht um
!«
Sie öffneten die Tür und schlüpften hinaus in die Dämmerung. Als sie hastig den Pfad entlangschritten, bildete sich Iwan ein, hinter sich ein Knarren zu vernehmen, als öffne jemand die Tür und beobachte sie von dorther. Es kostete ihn all seine Kraft, sich nicht umzudrehen und ohne allzu große Eile hinter dem Wolf herzugehen, aus dem Garten und weiter, über den nächsten Hügel auf den düsteren Schatten des Waldes zu, der sich in der Ferne abzeichnete.
Als sie die Hecke am Waldrand erreichten, glaubte er zu hören, wie sich weit hinter ihnen die Tür mit einem Knall schloss. Erst da wurde ihm bewusst, dass jeder Muskel in seinem Körper vor Anspannung schmerzte. Das hatte er vorher gar nicht bemerkt.
Er wollte den Wolf einholen und ihn noch vieles fragen, überlegte es sich dann aber anders. Der entschlossene Schritt des Wolfs, seine gespitzten Ohren, die er von hinten |108| trotz der Dunkelheit im Wald zu erkennen vermochte, entmutigten ihn in dieser Hinsicht.
Sie schritten stundenlang durch den Wald, bis der Wolf endlich stehen blieb.
»Wir übernachten hier, Junge«, sagte er. »Sieh zu, dass du dich gut ausruhst. Morgen gibt es eine Menge zu tun.«
|109| Marja
Am Tag, an dem ich dreizehn wurde, sagte mir mein Spiegel zum ersten Mal, dass ich die schönste Frau
Weitere Kostenlose Bücher