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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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nicht die ganze Nacht Zeit.«
     
    Das Haus wirkte verlassen. Die Fensterläden hingen schief an abgebrochenen Scharnieren. Die leeren Fenster blickten zu ihnen herüber wie die toten Augen eines Blinden. Der Weidenzaun war an so vielen Stellen aufgerissen, dass er kaum noch wie ein Zaun wirkte. Der schmale Pfad vom Gartentor zum Haus war von Unkraut überwuchert. Brennnesseln reckten sich vergebens, um mit ihren beißenden Blättern Eindringlinge in einem unaufmerksamen Moment zu erwischen. Doch hier gab es normalerweise keine Eindringlinge. An diesem verwahrlosten Ort wollte sich gewiss niemand aufhalten.
    »Worauf warten wir?«, fragte Iwan.
    »Pscht!«, machte der Wolf gleich neben Iwans Ohr. Er spähte in die Dämmerung hinein.
    »Warum?«, wagte Iwan nach langem Schweigen zu flüstern.
    »Kennst du das Sprichwort?«, fragte der Wolf und setzte sogleich hinzu: »Störe den schlafenden Bären nicht!«
    »Du meinst«, Iwan hielt inne und überlegte, »man soll keine schlafenden Hunde wecken? Die Gefahr nicht suchen?«
    »Was ihr Menschen auch sagen mögt.«
    »Welche Gefahr?«, flüsterte Iwan. Dann blieben ihm die Worte im Halse stecken.
    Die Haustür schwang mit einem Quietschen auf, das bis zu ihnen herüberdrang und beinahe wie das Weinen eines Kindes klang. Sie blieb ein paar Augenblicke offen stehen und schloss sich dann wieder von allein. Es gab einen dumpfen Schlag, und es raschelte, als schreite ein Unsichtbarer durch das Unkraut bis zum Gartentor. Dieses öffnete und schloss sich. Dann war alles ruhig.
    |104| Iwan spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief. Er wartete noch eine Weile, bevor er sich zu rühren wagte.
    »Jetzt«, sagte der Wolf.
    »Was meinst du?«, flüsterte Iwan.
    »Ich sagte,
jetzt
, Junge!« Das Flüstern bekam einen grollenden Unterton, der ein beunruhigendes Kneifen in Iwans Bauch erzeugte. Es war kein angenehmes Gefühl.
    Geduckt folgte er dem Wolf zum Haus. Es wurde immer dunkler. Alles in Iwan wehrte sich dagegen, dieses Haus zu betreten.
    Und dann blieb der Wolf an der Tür stehen und sah ihn erwartungsvoll an. »Überlass das nicht mir, Junge!«, grollte er. »Öffne die Tür mit – wie nennst du das? – mit deinen Pfo–, deinen Händen.«
    »Was ist das für ein Ort hier?«, wollte Iwan wissen. Er zögerte noch immer, den schiefen hölzernen Türgriff zu berühren.
    »Gefahr«, sagte der Wolf. »Sie lebt hier. Jetzt aber hinein mit dir, bevor dich jemand entdeckt!«
    Iwan atmete tief durch und zog an der Tür. Sie stöhnte, als lebte sie. Iwan bemühte sich, nicht daran zu denken, was drinnen auf sie warten mochte, und folgte dem grauen Umriss des Wolfs in das Halbdunkel des Hausinneren. Die Tür schloss sich mit einem dumpfen Schlag hinter ihnen. Iwan fragte sich, ob sie dem Haus noch einmal entkommen würden.
    Als er von der Tür in den Raum hineinschritt, bemerkte er, dass es gar nicht so dunkel war. Der aufgehende Mond schien durch das Fenster und beleuchtete das Innere des Hauses mit kaltem, weißem Licht.
    »Dort drüben – auf dem Tisch«, sagte der Wolf.
    Iwan sah hin.
    Der Tisch war eigentlich ein großes Brett, das unter dem Fenster aus der Wand ragte, an welcher es mit rauen Holzbohlen |105| befestigt war. Eine dicke Staubschicht lag darauf, ebenso Reste von jahrealten Mahlzeiten – so wirkte es jedenfalls, und es war eine Art von Mahlzeit, über die man besser nicht nachdachte. An der Seite lag ein Haufen getrockneter Hühnerknochen, die sich geisterhaft weiß vom Grau des Staubs abhoben. Aus dem Knochenhaufen ragte etwas Rundes hervor. Es wirkte auf Iwan nicht wie ein Hühnerschädel. Es wies Augen- und Nasenöffnungen auf, seltsam ähnlich jenen, die Iwan einmal auf einem alten Friedhof gesehen hatte, beinahe wie
...
    Er zwang sich, an dem Brett entlang weiter nach hinten zu blicken, wo ein zerbeulter Metallkrug neben einer niedrigen Keramikschüssel stand. Das Wasser im Krug glitzerte wie ein dunkles Auge. Als Iwans Blick darauf fiel, schien es ihm zuzublinzeln.
    »Gieß das Wasser in die Schüssel«, sagte ihm der Wolf leise ins Ohr. Seine Stimme erklang so plötzlich, dass Iwan aufschrak wie aus einem tiefen Schlaf.
    »Was?«, fragte er. »Warum?«
    »Bist du taub, Junge?«, grollte der Wolf leise. »Mach schon! Wir haben nicht viel Zeit.«
    Der Krug fühlte sich kühl an. Das Metall war blind von altem Staub, doch der Schimmer, der durch den Belag noch immer zu sehen war, ließ Iwan rätseln, woraus der Krug bestehen mochte. Zu Hause im Schloss

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