Die Sonnwendherrin
Täuschung!«
»Was?«
|118| »Das alte Biest wird versuchen, dich zu verwirren! Lass das nicht zu! Denk an alles Mögliche, von dem du weißt, dass es real ist, und bleib dabei. Sonst bist du verloren!«
Der Blick des Wolfs wurde unstet. Eine Sekunde lang lagen Bedauern und Sorge darin. Iwan sah schnell weg. Dies brachte ihn noch viel mehr aus dem Gleichgewicht als die Verachtung, die ihm der Wolf am vorigen Abend entgegengebracht hatte.
»Viel Glück!«, sagte der Wolf, wandte sich ab und wollte gehen.
»Warte!«, rief Iwan. »Willst du mich einfach so verlassen?«
»Wie, einfach so?«
Iwan zuckte die Achseln. »Ich hatte eigentlich gehofft, dass du in der Nähe bleibst«, sagte er und versuchte, beiläufig zu klingen. »Bis ich – fertig bin.«
Der Wolf kam näher, bis seine Schnauze Iwans Schulter fast berührte. »Denk daran, Junge«, sagte er sanft, »dass Katzen und Wölfe nicht die Nähe anderer suchen. Niemals. Nicht einmal, wenn sie sterben.«
Er machte einen Satz an Iwan vorbei und verschwand hinter einem dichten Haselnussstrauch. Die kräftigen Blätter bebten und hingen dann wieder still.
Iwan seufzte. Es gab nur einen Weg, den er nehmen konnte.
Der Pfad war so schwach ausgeprägt, dass er im hohen Gras manchmal kaum auszumachen war. Offensichtlich empfing Bajun nicht viele Besucher.
Die mächtige Eiche hockte auf der Hügelspitze wie ein ungeheurer Vogel auf seinem Nest und breitete seine flügelartigen Äste über dem großzügigen Nistplatz aus. Es schien beinahe, als habe die Erde der Zugkraft der massiven Wurzeln nachgegeben und sich aufgewölbt, als habe auf diese Weise der bloße Wille des uralten Baums den Hügel geformt. |119| Es fiel schwer, sich vorzustellen, dass schon vor dem Baum hier etwas gewesen sein sollte. Selbst der dahinter aufragende Felsen wirkte im Vergleich dazu klein und unsicher, als hätten die knorrigen Wurzelfinger ihn lediglich an seinen Platz gesteckt, um diesen eindrucksvollen Nistplatz zu vervollständigen.
Als Iwan den Hang emporstieg, bemerkte er keinerlei Bewegung. Der Pfad hob sich hier klarer umrissen ab und schlängelte sich um den Baum wie ein Seil, das man nachlässig auf das dichte Gras geworfen hatte. In den langen Schatten des nahenden Abends war er gerade noch sichtbar.
Auf dem Hügel angekommen, blieb Iwan wartend stehen. »Ist irgendjemand zu Hause?«, fragte er schüchtern.
Über seinem Kopf raschelte es in den Zweigen, und wenige Augenblicke später erschütterte ein lautloser Aufprall den Boden zu seiner Linken. Doch zunächst schien es, als sei die große Gestalt, die den verblassenden Sonnenschein verdeckte, aus dem Gras herausgewachsen und nicht aus dem Baum gesprungen. Ihre Bewegungen waren langsam und entspannt, doch gleichzeitig so rasch, dass es dem Auge schwerfiel, ihnen zu folgen.
Iwan blickte entgeistert hin.
Es sah wie eine sehr große Katze aus, zwar kleiner als der Wolf, aber groß genug, dass man es nicht mit einem gewöhnlichen Tier verwechseln konnte. Sitzend befand sich sein Kopf gerade in Höhe über Iwans Hüfte. Das lange Fell war pechschwarz, und gegen den blutroten Sonnenuntergang hob es sich wie ein Heiligenschein aus Dunkelheit ab. Zuerst schien diese Dunkelheit alle anderen Züge zu verbergen. Dann jedoch sah Iwan die Augen.
Sie waren smaragdgrün und leuchteten in der Schwärze. Sie strahlten ihr eigenes Licht aus, das trotz des Sonnenuntergangs dahinter noch hell erschien. Unter ihrem Blick schauderte Iwan. Kaltes grünes Höllenfeuer brannte darin.
|120| Es war das schönste Wesen, das Iwan je erblickt hatte. Wenn man Bajun einmal ansah, vermochte man nicht mehr wegzuschauen.
Der riesige Kater rührte sich. »Iwan der Narr aus dem Zwölften Königreich«, sagte er nachdenklich. Seine Stimme klang sanft und tief wie ein Schnurren. Er schien zu flüstern, doch dieses Flüstern hallte in Iwans Innerem wie Donner.
Bajun erhob sich und kam näher an Iwan heran. Sein Katzengesicht erschien in Iwans Gesichtsfeld, und einen kurzen Augenblick lang sah er eine rosa Zunge herauszucken und über rasiermesserscharfe Eckzähne lecken. Dann war sie verschwunden.
»Was suchst du, Junge?«, flüsterte Bajun. »Welche Geschichte möchtest du hören? Vielleicht ein Lied über deine eigenen Taten? Hör zu
..
.
«
Er sprach, und das sanfte Schnurren seiner Stimme war alles, was Iwan noch wahrzunehmen vermochte. Diese Stimme nahm ihn nicht minder gefangen als der tiefgrüne Blick. Statt Worten erfüllten Bilder Iwans
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