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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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Wolf.
    Durch die Lücken in der Hecke vor ihnen konnten sie bereits die grünen Getreidefelder sehen, die vom rötlichen Lichtschein der untergehenden Sonne übergossen dalagen. Iwan musste sich beeilen, um mit dem Wolf Schritt zu halten. Er atmete erst einmal tief durch, bevor er sprach, um seine Erschöpfung nicht zu zeigen.
    »Was meintest du damit, eine Katze?«, fragte er hartnäckig.
    »
Die
Katze«, verbesserte ihn der Wolf. »Die Katze aller Katzen   – Bajun, der Klatschkater.«
    Iwan überlegte. »Aber Katzen oder Kater erzählen doch keine Klatschgeschichten«, wagte er schließlich einzuwerfen.
    Der Wolf trat zwischen zwei Birken hindurch, die wie ein Tor wirkten, und blieb gerade noch innerhalb der den Wald säumenden Hecke stehen. »Vielleicht«, stellte er fest, »hören die dummen Menschen einfach nicht zu!«
    Iwan holte noch einmal tief Luft und genoss die Pause. Seine Beine schmerzten von diesem Marsch, der schon den ganzen Tag über andauerte. Sein Herz wummerte. Er musste sich beherrschen, um seine Stimme fest und gleichmäßig klingen zu lassen.
    »Also dann?«, fragte er leichthin. »Warum sprichst du von Gefahr? Was habe ich Schlimmes zu erwarten?«
    »Dich selbst!«, sagte der Wolf. »Und wenn ich an die |116| jüngsten Ereignisse denke, muss ich sagen, dass du keinen schlimmeren Feind hast. Es wäre mir lieber, du stündest irgendeinem Ungeheuer gegenüber.«
    Iwan zuckte die Achseln. »Es ist nicht gerade hilfreich, wenn du in Rätseln sprichst!«, sagte er dem Wolf.
    Die graue Schnauze des Tiers richtete sich geradewegs auf Iwan. Die gelben Augen zogen ihn an. Iwan wurde in diesen Blick hineingezogen, von einer uralten und mächtigen Magie in Bann geschlagen.
    Es gab kein Entkommen. Er erinnerte sich nicht mehr daran, wer er war. Er wusste nichts mehr von seinen Zielen, seinen Wünschen, dem Zweck seiner Wanderung. Zwei große gelbe Augen dominierten sein ganzes Selbst. Seine gesamte Welt.
    Und dann war es vorüber. Er stand wieder hinter der Hecke. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages liebkosten seine Haut. Vögel zwitscherten, und ein Moskito sang neben seinem Ohr sein blutdürstiges Lied.
    Iwan. Ich bin Iwan.
    Er schauderte.
    Iwan der Narr.
    »Lass mich dir etwas sagen«, forderte ihn der Wolf auf. »Was du gerade gespürt hast, war nur ein schwacher Abklatsch der Macht der Ursprünglichen. Die Macht Bajuns, des Klatschkaters, ist der meinen ähnlich. Ähnlich, aber doch anders.«
    »Inwiefern?«, brachte Iwan heraus.
    »Wölfe leben in Rudeln. Ihre Macht kann mit anderen geteilt werden. Katzen sind Einzelgänger. Ihre Macht wird nicht geteilt. Sie nehmen, aber sie geben nicht.
Niemals

    »Und warum benötigen wir dann die Hilfe des Klatschkaters?«, wollte Iwan wissen. »Wenn er ohnehin nichts geben wird, nützt es uns doch nichts!«
    »
Du
benötigst seine Hilfe«, erklärte der Wolf, »denn du |117| steckst in so großen Schwierigkeiten, dass nicht einmal ich dir da heraushelfen kann. Das hast du dir selbst zuzuschreiben. Und falls Bajun, der Klatschkater, dir in diesem Fall nicht hilft, bist du wahrhaftig auf dich allein gestellt!«
    Iwan seufzte. Wenn es auch nicht gerade ein Vergnügen war, den Wolf in dieser Stimmung zu erleben, so war es doch immer noch leichter zu ertragen als sein Schweigen in der vergangenen Nacht. »Also gut«, sagte er. »Was soll ich tun?«
    »Pass vor allem auf, dass du ihn nicht um irgendetwas bittest oder nach etwas fragst. Wenn das Biest merkt, dass du etwas von ihm willst, bist du verloren!«
    »Und wie soll ich etwas von ihm erfahren, wenn ich nicht frage?«
    »Indem du zuhörst! Das versuche ich dir doch schon die ganze Zeit zu sagen. Wenn du nur einmal zuhören würdest
..
.
«, grollte der Wolf und wandte sich ab.
    Iwan wartete.
    »Seine Geschichten haben stets etwas zu bedeuten, Junge«, fuhr der Wolf nach kurzer Pause fort. »Der Zuhörer hat es selbst in der Hand. Wenn du gut zuhörst, wirst du bekommen, was du brauchst. Ich weiß, dass du deinen Kopf benützen kannst. Jedenfalls manchmal.«
    Iwan beschloss, Letzteres zu ignorieren. »Sonst noch etwas?«, fragte er kurz.
    »Ja. Denke stets daran, wer du bist. Lass dich nicht so beschwatzen, dass du es vergisst.«
    Iwan erinnerte sich an die Anziehungskraft des Wolfsblickes. Sollte die Macht des Klatschkaters genauso groß sein, würde es schwer werden, diesen Rat zu befolgen. Dennoch musste er es versuchen.
    »Und das Wichtigste: Verwechsle Wirklichkeit nicht mit

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