Die Sonnwendherrin
verlieren.«
Er wandte sich zur Tür und schritt aus seinen Gemächern. Ich folgte ihm, wobei ich alle Gedanken daran, was ihn in seinem Schlafzimmer erwartete, unterdrückte. Es ging mich nichts an.
In meinem Gemach angekommen, nahmen wir unsere Plätze vor dem Spiegel ein. Ich zwang mich zu jener inneren Ruhe, die zur Magie des Spiegels gehörte, warf jedoch meinem Vater einen fragenden Blick zu und bemerkte, dass er mein Gesicht musterte.
»Es gefällt mir, dass meine einzige Tochter gleichzeitig die Hohepriesterin ist«, stellte er fest. »Nur auf diese Weise kann ich sichergehen, dass keine Geheimnisse aus der Familie nach außen getragen werden.«
Als ich ihn daraufhin anblickte, kam mir mit einem Mal ein Gedanke, der mich – wie mir jetzt klar wurde – verfolgt hatte, seit ich im Wald mit dem Raben gesprochen hatte.
»Warum glaubst du, dass dieser Junge der Held aus der Prophezeiung ist?«, fragte ich ihn. »Du hast doch nicht mit dem Raben gesprochen, seit er uns verraten hat, oder?«
Kaschtschej sah mich lange an, antwortete aber nicht.
»Also«, fuhr ich schließlich fort, »hast du ganz genau gewusst, was der Junge vorhatte, ja? Es war kein Zufall, dass du zu jener Zeit in mein Gemach kamst?«
»Du bist klug, meine Tochter«, sagte er grinsend.
Ich bebte vor Zorn. »Warum tust du mir das an, Vater?«, fragte ich und bemühte mich, es ruhig und beherrscht klingen zu lassen. »Du wusstest doch die ganze Zeit schon, dass |155| ich dem Jungen nichts verraten hatte, und dennoch hast du mir Schuldgefühle eingeredet. Wieso?«
Er trat näher und stand nun ganz dicht vor mir. Ich spürte seinen kühlen Atem an meiner Wange.
»Marja, erinnere dich an die erste Lektion in Bezug auf die Trennung deiner Gefühle, die ich dir erteilt habe. Denk an die Männer, die ihr Leben gaben, um dir solche Genüsse zu verschaffen.«
Ich fühlte, wie eine kalte Hand nach meinem Herzen griff und es beinahe zum Stillstand brachte. Wie könnte ich das jemals vergessen?
»Komm her«, sagte mein Vater.
Er legte seine Arme um mich und zog mich an sich, barg mich in seiner Umarmung. Ich versteifte mich. Ich erlebte den Schrecken meines dreizehnten Geburtstags noch einmal. An jenem Tag hatte er mir beigebracht, mich niemals nach seiner Berührung zu sehnen. Und dennoch sehnte ich mich noch immer danach.
»Schuld«, sagte mein Vater, »ist ein gutes Gefühl. Schuld und Zorn. Sie helfen dir, auf der Hut zu sein. Und du bist doch nach wie vor auf der Hut, oder, Marja?«
»Ja, Vater«, hauchte ich.
»Gut«, sagte er.
Er fuhr mit seinen Händen durch mein Haar und dann meinen Rücken hinab. Ich bebte. Doch ich blieb unbewegt. Es war ein Trick, sagte ich mir. Eine Prüfung. Er wollte mich überrumpeln, damit ich gefährliche Gefühle durch meinen Panzer dringen ließ.
Als ich dreizehn war, mochte ich auf so etwas hereingefallen sein, aber nun nicht mehr. Ich war ruhig. Distanziert. Die einzigen Gefühlsregungen, die ich durchließ, waren Zorn und Schuld. Und doch empfand ich auch diese nicht wirklich. Ich war gelassen. Ich war die Sonnwendherrin, die Hohepriesterin an der Seite meines Vaters. All die |156| Sehnsucht, all die Wärme, mit denen mein verräterischer Körper auf seine Berührung reagierte, waren nicht mehr als eine Falle, die mein Vater mir gestellt hatte, um festzustellen, wie stark ich geworden war.
Meine Macht war unbegrenzt. Hier und jetzt hatte ich die absolute Kontrolle über mich.
Ich spürte, wie meines Vaters Hände mich losließen.
»Gut«, wiederholte er. »Du hast deine Lektion verinnerlicht, Marja. Ich bin froh, dass du voll und ganz darauf vorbereitet bist, zu tun, was du tun musst.«
Ich atmete aus und ließ die Anspannung entfliehen. Meine Hände zitterten, und ich ballte sie zu Fäusten, damit mein Vater es nicht bemerkte.
»Fühlst du dich etwas besser, Marja?«, fragte er leise.
Ich nickte. Dabei fühlte ich mich so schwach. Wie eine leere Hülle, die sich danach sehnte, ihre Energie zurückzugewinnen, von ihr erfüllt zu werden.
»Dieser Junge ist lediglich ein Werkzeug, das von meinen Feinden ausgesandt wurde, um deine Macht herauszufordern, Marja«, sagte mein Vater. »Wir werden alles über ihn erfahren, auch, wer oder was wirklich hinter ihm steht.«
Wieder nickte ich und suchte in meinem geschwächten Körper nach Kraft. Ich musste vollbringen, was zu tun war. Es gab keine andere Wahl.
»Du bist stark, Marja«, fuhr Kaschtschej fort. »Weil du anders bist. Denke immer
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