Die Sonnwendherrin
Wange hinab. Meines Vaters Methoden sind auch nicht immer perfekt. Ich bemühte mich, die Träne zu ignorieren, und betrachtete stattdessen ihre gesenkten Wimpern, die sanften Linien ihres Profils, den schlanken Hals. Der Rest wurde von dem sackartigen Kleid verdeckt, das sie nach wie vor trug, doch meine Dienerinnen hatten mir versichert, dass auch ihr Körper ansehnlich war.
Diese Traurigkeit steht ihr gut,
dachte ich.
Ihr Aussehen genügt allen Ansprüchen.
»Bist du Jungfrau, Aljona?«, setzte ich meine Fragen fort.
Sie errötete so stark, dass sich sogar ihr Hals dunkel verfärbte, und dann deutete sie ein Nicken an.
Sie war eine, so viel war mir klar. Aber ich wollte, dass sie es laut aussprach.
»Nun?«, fuhr ich fort und gab vor, ihr Nicken nicht bemerkt zu haben. »Antworte mir!« Ich legte etwas Misstrauen in meinen Tonfall, denn das war für gewöhnlich die beste |152| Art und Weise, die Mädchen in die Defensive zu drängen und zum Reden zu bringen.
»Ich bin Jungfrau, Herrin, ich schwöre es!« Wieder eine Träne, und wieder ignorierte ich sie. Meine Dienerinnen würden es später nachprüfen, doch im Augenblick war es nicht notwendig, sie noch weiter zu verängstigen.
»Gut«, sagte ich lächelnd. »Ich glaube, du bist absolut geeignet für deine wichtige Rolle. Du wirst uns doch nicht enttäuschen, oder, Aljona?«
»Das werde ich gewiss nicht, Herrin«, versprach sie mit fester Stimme und biss sich auf die hübsche Unterlippe.
So ging man mit Bauern um. Finde die richtigen Worte, und sie dienen dir fürs Leben. In diesem Fall war das allerdings nicht sehr lang.
»Von nun an«, sagte ich feierlich, »wirst du die Auserwählte genannt, die Heilige Maid der Sommersonnwende. Mögest du unserem Land wohl dienen!«
Ich trat vor sie hin, legte meine Hände auf ihre Wangen und küsste sie auf die Stirn. Mein Kuss war die offizielle Besiegelung dieses Todespaktes, und er hinterließ ein sternförmiges Mal auf ihrer Stirn, das in der Sonnwendnacht sichtbar sein würde.
»Meine Dienerinnen werden sich um dich kümmern und dir helfen, dich vorzubereiten«, sagte ich noch und gab ihnen einen Wink, das Mädchen wegzugeleiten.
Als ich mich den Gemächern meines Vaters näherte, vernahm ich gedämpfte Schreie aus dem inneren Raum. Ich zögerte. Ich störte meinen Vater nur ungern, wenn er eine seiner Frauen beglückte. Vor allem dann nicht, wenn er etwas grob mit ihnen umging. Aber die Zeit war zu kostbar. Es gab Fragen, die nicht warten konnten.
Ich schob die schwere Tür auf und lauschte zufrieden dem lauten Quietschen der Scharniere. Mein Vater wollte gewarnt |153| werden, wenn Besucher eintraten. Also blieb mir der verlegene Augenblick erspart, falls ich ihn überraschte.
Als er aus dem inneren Raum herauskam, um mich zu begrüßen, lag ein gewisses Grinsen auf seinem Gesicht, welches stets bedeutete, dass er seine Beute sicher in den Fängen hatte. Ich sah, dass einige ihrer Kleidungsstücke auf dem Boden verstreut lagen. Deren Aussehen nach war sie vermutlich die Tochter eines Bojaren, doch das ging mich nichts an. Mein Vater mochte seinen Spaß haben, wann und wie immer es ihm gefiel, soweit es mich betraf. Waren diese Mädchen dumm genug, ihm in die Falle zu gehen, so war das ihr Problem und nicht meines.
»Ich muss mit dir reden, Vater«, sagte ich.
Er wusste natürlich, warum ich gekommen war. Aber er hatte nicht vor, dieses Gespräch zu beginnen.
Ich hielt inne und sah ihm in die Augen. »Ich habe noch vor Sonnenaufgang mit dem Raben gesprochen«, berichtete ich.
»Und?«
»Er erzählte mir von der Prophezeiung.«
»Ja, und?«
»Warum hast du mir nichts davon gesagt, Vater? Warum hast du mich dem Jungen unvorbereitet gegenübertreten lassen?«
Er sah mich amüsiert an. »Ich dachte, du glaubst nicht an Prophezeiungen«, sagte er.
»Und ich dachte, du seist derjenige gewesen, der mir das beibrachte«, parierte ich.
Wir standen da und funkelten uns gegenseitig an.
Schließlich sagte ich: »Der Rabe schlug vor, ich solle meinen Spiegel fragen, warum der Junge in unser Reich kam. Und wer ihm behilflich ist.«
Mein Vater nickte. »Eine weise Vorsichtsmaßnahme«, lobte er.
|154| »Ich wollte dich bitten, mitzukommen und es mit anzusehen«, fuhr ich fort. Und nach einem Blick in Richtung des inneren Raumes fügte ich hinzu: »Falls du Zeit hast.«
Er zuckte die Achseln und warf einen kurzen Blick dorthin.
»Komm, Vater«, drängte ich. »Wir müssen gehen! Wir haben keine Zeit zu
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