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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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hätte sein Leben für sie gegeben. Doch in seiner Vogelgestalt vermochte er nichts für sie zu tun. Und seine Menschengestalt hatte er für immer aufgegeben!
    Seine Augen verrieten die Tiefe seiner Verzweiflung, als er ihren Todeskampf beobachtete – nass und erschöpft, nicht gewillt, aufzugeben, und dennoch machtlos und unfähig, seine Liebste zu retten, hätte er lediglich mit ihr sterben können. Am Ende entschloss er sich, weiterzuleben. Vielleicht um des ungeborenen Kindes willen, das sich jetzt in Kaschtschejs Besitz befand. Als ihre Schreie und ihr Kampf |231| schließlich vorüber waren und sich das Wasser endgültig über ihrem Kopf glättete, fiel er zu Tode erschöpft zu Boden und lag lange Zeit dort am Ufer.
    Ich hatte nicht gewusst, dass Vögel weinen können.
    Wie betäubt bemerkte ich schließlich, dass der Wolf mich aus seinem Bann entlassen hatte. Ich ließ mich ins Gras sinken und fühlte mich genauso erschöpft wie der Rabe damals.
    »Was hast du mit ihr gemacht?«, fragte mein Vater zornig.
    »Ich habe ihr die wahre Geschichte ihrer Geburt gezeigt«, antwortete der Wolf.
    »Sie wurde aus einem Ei geboren, na und?«, sagte mein Vater mürrisch. Es klang, als verteidige er sich, und nun wusste ich auch, warum. Aber ich hatte nicht die Kraft, etwas dazu zu sagen. »Es kann nicht schaden, wenn sie das weiß. Sie wurde als Taube geboren, und dann lehrte ich sie, menschliche Gestalt anzunehmen, wie ich es ihrer Mutter versprochen hatte.«
    »Und wie war das mit dem Raben?«, fragte der Wolf.
    »Er wusste doch von ihrer Geburt«, verteidigte sich Kaschtschej heftig. »Und es schien ihm egal zu sein. Also behielt ich sie bei mir und zog sie als meine Tochter auf. Was hätte man denn sonst noch von mir verlangen können?«
    Der Wolf sah ihn lange und eindringlich an, schwieg aber. Stattdessen wandte er sich mir zu. Ich saß noch immer wie gelähmt im Gras.
    »Weißt du, du warst für Kaschtschejs Pläne perfekt geeignet«, sagte er zu mir. »Vorher musste man die jeweilige Sonnwendherrin immer unter gehässigen alten Frauen auswählen, die alle ihre Fähigkeit zur Liebe bereits erschöpft hatten. Solche Frauen konnten niemals wirkliche Macht erlangen, da diese Macht aus der inneren Anspannung durch ein unterdrücktes, aber starkes Gefühl entspringt. Doch es war nie gelungen, eine junge Herrin einzusetzen. Der Trank |232| der Liebe besitzt große Macht über die Menschen, und keine junge Frau vermochte ihm zu widerstehen. Kaschtschej wusste, dass er durch Kupalos Macht enormen Einfluss gewinnen würde, und du warst seine große Chance.«
    »Ich verstehe nicht«, flüsterte ich.
    »Du bist ein Gestaltwandler wie dein Vater. Du hast sein Vogelblut in dir. Deshalb ist es unwahrscheinlich, dass du dich in einen normalen Menschen verlieben könntest. Und das hat dich Kaschtschejs Kräften gegenüber besonders leicht zu beeinflussen gemacht.«
    Ich dachte an Kaschtschejs Liebkosungen, nach denen ich mich mehr sehnte als nach allem anderen auf der Welt. Er hatte diese Sehnsucht aber nie erfüllt, und ich glaubte, ich könne ihn niemals auf andere Art lieben als eine Tochter ihren Vater. Zugleich liebte ich niemals jemand anderen, solange er in der Nähe war.
    »Was hast du damit zu tun, Wolf?«, fragte Kaschtschej. »Was interessiert es dich?«
    Der Wolf wandte sich ihm zu. Triumph lag in seinem Blick. Und noch etwas anderes: Bitterkeit, Schmerz.
    »Kennst du jetzt dieses Gefühl, Kaschtschej?«, fragte er. »Wenn eine Untat, die du in ferner Vergangenheit vergessen wähntest, plötzlich wieder an die Oberfläche kommt und dich mitten ins Herz trifft?«
    »Was willst du damit sagen?«, fragte mein Vater. Doch zum ersten Mal in meinem Leben nahm ich wahr, dass seine Stimme beinahe versagte. Er hatte Angst, das wurde mir jetzt klar. Er hatte panische Angst.
    Der Wolf sprach weiter, und der verborgene Schmerz schwang in seinen Worten mit: »Elena war mein Mündel. Ich hatte einen Eid geschworen, sie zu beschützen. Doch ich habe versagt.«
    Das Schweigen, das auf seine Worte folgte, war von den Echos längst vergangener Taten erfüllt. Ich konnte es nicht |233| mehr ertragen. Schließlich fand ich die Kraft, mich Kaschtschej zuzuwenden und ihm in die Augen zu sehen. »Aber warum, Vater?«, flüsterte ich. »Warum hast du Elena getötet?«
    Ich bereute diese Worte, kaum hatten sie meine Lippen verlassen. Doch es war zu spät.
    Die Augen des Raben öffneten sich mit einem Blitz, der mich blendete.
    »Du hast sie

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