Die Sphaeren
Selbst in der Luft hing, sah sie es nur als eine Art Schemen mit der richtigen Größe und in der richtigen Form.
Sie begann bereits damit, ihren eigenen Traum kritisch zu analysieren. War Mrs. Machasa wirklich so groß gewesen? Hatte ihre Gruppe wirklich aus so vielen Personen bestanden?
Im Innern ihres Kopfes beobachtete sie, wie der Zug zischte und fauchte, wie er große weiße Wolken aushustete und nach Feuchtigkeit roch. Dann saßen sie in Dampfkutschen und fuhren über eine Straße durch eine große, weite Ebene. Wolken zeigten sich am blauen Himmel. Hier und dort wuchsen Bäume. Und struppiges Gras, bei dem Zeel, ihr Mersicor-Wallach, die hübsche Nase gerümpft hätte. Alles war sehr flach und langweilig.
In der Erinnerung gab es keine Vorwarnung: Von einem Augenblick zum anderen war der Wasserfall einfach da. Der Schnappschuss einer nach kindlichen Maßstäben endlosen Kutschenfahrt (vermutlich etwa zehn Minuten), dann: der Hyeng-zhar, in seiner ganzen chaotischen Pracht.
Es musste der riesige Fluss zu sehen gewesen sein, das gegenüberliegende Ufer in dem von ihm selbst geschaffenen Nebel verborgen, sodass es den Anschein hatte, dass ein ganzes Meer ins Nichts fiel. Große, wogende Wolken ballten sich über dem weiten Bogen des kolossalen Katarakts zusammen, stiegen unaufhörlich gen Himmel; ganze Kontinente aus Dunst erstreckten sich bis zum Horizont; Klippen und Steilhänge aus Gischt ragten auf. Und dann das Donnern des Ozeans, der über nackte Felsen strömte und in den verwirrenden Komplex aus miteinander verbundenen, seegroßen
Becken stürzte, wo sich wirre Haufen von Felsen schräg und schroff den Fluten entgegenstemmten und ihnen zu trotzen versuchten.
Djan hatte bestimmt einige Mönche der Hyeng-zharia-Mission gesehen, des religiösen Ordens, der über die Ausgrabungen bei den Fällen wachte, und hinzu kamen Schmutz und Dreck des ausgedehnten, rastlosen Elendsviertels namens Hyeng-zhar-Siedlung, mit all der Ausrüstung und den Gerätschaften, die für die immer unter Zeitdruck stehenden Ausgrabungen gebraucht wurden … Aber daran erinnerte sie sich nicht, zumindest nicht vor dem Schock, den ihr der erste Anblick der Fälle brachte, von der Seite gesehen. Der Himmel schien sich umgestülpt zu haben, das ganze Universum stürzte in die Tiefe, pulverisierte mit ohrenbetäubendem Donnern und in einem Höllentanz der Elemente alles, was sich ihm in den Weg stellte. Hier zitterten Luft und Boden, der Körper und das Gehirn im Kopf, es rasselte wie eine Murmel im Glas.
Djan Seriy schloss ihre Hand fest um die von Mrs. M.
Sie wollte schreien. Sie glaubte zu spüren, wie ihr die Augen aus den Höhlen traten und sich ihre Blase entleerte – aufgrund des Drucks der um sie herum zitternden Luft -, aber vor allem wollte sie schreien. Obwohl sie wusste: Einen Schrei hätte Mrs. M zum Anlass genommen, sie fortzubringen, den Kopf zu schütteln und zu sagen, sie hätte gewusst, dass es keine gute Idee gewesen war. Trotzdem wollte sie schreien. Nicht weil sie sich fürchtete – es steckte durchaus Angst in ihr; sie war entsetzt -, sondern weil sie teilhaben und diesen Moment durch einen eigenen Beitrag kennzeichnen wollte.
Es spielte keine Rolle, dass dies die mit Abstand erstaunlichste Sache war, die sie in ihrem ganzen Leben gesehen hatte (in jeder wichtigen Hinsicht blieb sie das, trotz der vielen Wunder, die ihr die Kultur später zeigte), dass es nichts Ebenbürtiges gab, nichts, das es hiermit aufnehmen konnte oder auch nur daran heranreichte. Es zählte allein, dass sie hier war, dass der Wasserfall hier war, dass er das lauteste Geräusch in der ganzen Welt machte und dass sie ihm etwas hinzufügen musste, in Anerkennung seiner mächtigen, überwältigenden Stimme. Ihre Winzigkeit im Vergleich zu ihm war irrelevant; sein unerhörtes Ausmaß saugte ihr die Luft aus den Lungen, zog das Geräusch des Schreis aus ihrem kleinen Leib und der zarten Kehle.
Sie füllte ihre Brust, bis sie den Eindruck gewann, dass Knochen und Haut gegen den zugeknöpften Mantel drückten. Ganz weit öffnete sie den Mund, zitterte und bebte dann so, als kreischte sie mit all der Kraft, die in ihrem Körper steckte. Aber es kam kein Geräusch aus ihrem Hals, gewiss keins, das laut genug gewesen wäre, um im kolossalen Donnern des Wasserfalls gehört zu werden. Und so blieb der Schrei in ihr stecken und breitete sich in ihrem kleinen Selbst aus, tief vergraben und für immer mit ihrer Erinnerung verbunden.
Für eine
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