Die Spinne - Niederrhein-Krimi
Woche sehen. Allein deine Freude darüber zu erleben finde ich schön. Du bist einmalig, meine Liebe.«
Er tätschelte ihre Hand. Einen Moment lang verweilten ihre Blicke im winterlichen Garten. Vor der Terrasse stand eine Futterstation, einem schwedischen Holzhaus nachempfunden, und dort sorgte eine stattliche Frequenz kleiner Vögel für ein ständig wechselndes Bild. Die beiden Zuschauer wetteiferten an manchen Tagen um den seltensten Wintergast. Unerwartet flogen mit einem Ruck Meisen, Spatzen und Finken gleichzeitig auf. Henner suchte nach dem Grund für das aufgescheuchte Flattern.
»Da, schau, die Nachbarin ist schon wieder draußen beschäftigt. Was macht sie jetzt?«
»Louise schneidet den Hartriegel. Das ist keine Arbeit für so eine zierliche Frau, ich verstehe das einfach nicht.«
»Was verstehst du nicht? Sie nutzt den Januar, um ihre Sträucher zu schneiden. Die richtige Zeit für solche Arbeiten, sagst du mir jedenfalls immer, wenn ich dir draußen helfen soll.«
»Die Zeit ja, aber warum macht sie das alles allein? Ihr Mann hilft ihr sonst immer, zumindest bei den schweren Sachen. Den habe ich seit Langem nicht mehr gesehen.«
»Der hat eben viel zu tun.« Henner setzte seine Brille wieder auf und füllte ein langes Wort waagerecht ein, bei dem er gleich zwei Buchstaben im Lösungswort eintragen konnte.
Johanna verzog das Gesicht, als ihre Nachbarin einen meterlangen, starken Ast quer durch den Garten zog, sich offensichtlich sehr dabei anstrengte. »Ich kann gar nicht hinschauen, heute Abend hat sie es im Kreuz, garantiert. Überleg doch mal, wann hast du den Alfons das letzte Mal gesehen?«
Henner legte die Brille wieder zur Seite. »Ehrlich gesagt, da habe ich mir noch keine Gedanken drüber gemacht, ich weiß auch nicht genau, wann ich die anderen aus der Straße zuletzt gesehen habe.«
Nachdenklich beobachteten sie, wie einzelne freche Meisen sich von der Nachbarin nicht mehr stören ließen. Louise zog derweil ein Kabel hinter sich her, in der Hand eine elektrische Fuchsschwanzsäge. Henner wies auf das Nachbargrundstück. »Schau, jetzt will sie auch noch Bäume fällen.«
»Na, aus dem Hartriegel müssen die alten Stämme rausgesägt werden, die sind schon einige Jahre alt, das geht nicht mit der Astschere.«
»Traust du ihr zu, dass sie das schafft?«
Beide hielten für einen Moment die Luft an, draußen brummte die handliche Säge, der dicke Ast mit der rötlichen Rinde kippte über den Zaun und landete in Johannas Garten.
Henner sprang auf. »Und ich hab noch gedacht, das geht nicht gut. Ich gehe jetzt raus und helfe ihr.«
»Dann frag sie auch, wieso ihr der Alfons nicht zur Hand geht.«
»Einen Teufel werde ich tun, ich bin doch nicht neugierig.« Er zog seinen uralten Parka über, und Johanna mimte die Entsetzte.
»Willst du damit sagen, ich sei neugierig, weil ich mir Gedanken über den Verbleib meiner Mitmenschen mache?«
Lächelnd ging er auf sie zu und gab ihr einen Schmatzer auf die Wange. »Du bist sehr aufmerksam. Ich finde, das ist eine sehr gute nachbarschaftliche Eigenschaft. Nur so kann man zum Beispiel der Vereinsamung vorbeugen. Ich meine nur, es besteht kein Grund zur Sorge um Louise und Alfons, es sei denn, sie wird von einem Ast erschlagen, den sie selber absägt. Es wird besser sein, wenn ich ihr bei den dicken Knüppeln helfe.«
Schon stand er bei der Außentür und streifte sich die Gartenschuhe über.
»Trotzdem«, rief Johanna ihm nach.
»Wie, trotzdem?«
»Trotzdem glaube ich, dass irgendwas nebenan nicht stimmt. Im Januar ist Alfons nie weg gewesen. Wenn der auf Dienstreise geht, dann erst ab Mai, wenn das Wetter wieder freundlicher ist. Der war schon kurz nach Weihnachten nicht mehr da.«
Henner hielt die Klinke in der Hand. »Und? Woran hast du das gemerkt?«
»Wenn Louise allein ist, kauft sie morgens an der Backtheke nur ein Kornspitz und ein Mohnbrötchen. Wenn Alfons da ist, nimmt sie zwei Hörnchen dazu.«
Henner hielt inne. »Und seit vierzehn Tagen …«
»… kauft sie nur Kornspitz und Mohnbrötchen.«
Der grauhaarige Mann im alten Bundeswehr-Parka war sprachlos. Johanna sah ihn mit einem triumphierenden Lächeln an. »Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, mein Lieber.«
»Du erstaunst mich immer wieder. Deine Logik hat mich überzeugt. Ich werde sie nach Alfons fragen.«
»Ganz beiläufig bitte, als wäre es dir eben erst eingefallen.«
»Natürlich, meine Liebe, sonst könnte Louise ja denken, ich sei neugierig.«
Auch die
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