Die Sprengmeister und der unheilige Gral: Social Fiction (German Edition)
gewählt, sondern von den Volksvertretern. Und da geht es auch schon los. Wer nicht mehr gewählt wird, taucht in irgendwelche anderen Abteilungen ab und fummelt dort weiter an seiner Frühverrentung bei gleichzeitigem Übertritt in einige fett dotierte Aufsichts- und Verwaltungsratspöstchen.
Irgendwann wurde das System allerdings so kompliziert, dass keiner mehr durchgeblickt hat. Nicht die Volksvertreter, nicht die Leute in den Gremien, Organen, Verwaltungen und schon mal gar nicht das sogenannte Volk selbst.»
«Ich blicke bei meinen Organen auch langsam nicht mehr durch.»
«Lenk nicht ab. – Streng genommen repräsentierten die Brüder irgendwann nur noch sich selbst. Wenn man es freundlich ausdrücken möchte, ist die repräsentative Demokratie eine Ausprägung von Arbeitsteilung in Folge wachsender Sachentscheidungskomplexität zuungunsten der ursprünglichen Intention, nämlich Ermöglichung und Förderung von demokratischen Entscheidungsprozessen. Hinzu kam, dass die unzähligen Interessengruppen durch Lobbyismus die restdemokratischen Prozesse erlahmen ließen und die für den Entwicklungsprozess bedeutsamen Entscheidungen verhindern konnten. – Unterm Strich hatte das Ganze mit Demokratie eigentlich nichts mehr zu tun.»
«In der Schweiz schon. Da hat das Volk ein Vetorecht gegenüber den Entscheidungen der Volksvertreter. Die können Nein sagen.»
«Haben sie ja auch. Laut und vernehmlich. Hat nur nichts genützt, siehst du ja.»
«Die sind pleite. Kein Wirtschaftswachstum, keine Jobs. Wie bei uns. Ja, und?»
«Na ja, angeblich gibt es einen Zusammenhang zwischen Demokratie und Wirtschaftswachstum. Danach sollen einige Indikatoren politischer Freiheit statistisch signifikante positive Effekte auf Wachstum haben.»
«In der Schweiz hat es nicht geklappt und bei uns auch nicht. Und in Frankreich nicht und nicht in England. Die anderen kann man nicht zählen, die haben gar nichts mehr.»
«Wir auch nicht. Immerhin haben wir noch eine unfähige, ineffiziente und korrupte Regierung, die immerhin für sich selbst da ist – wenn auch nicht für uns.»
«So schlimm sind die gar nicht. Ich meine im Vergleich zu früher.»
«Einen Unterschied gibt es immerhin: Wir werden sie nicht mehr los.»
xii Das Geburtstagsgeschenk
Carsten hat sich über eine Schüssel kaltes Wasser gebeugt und seift seine langen, grauen Haare mit einer großzügig parfümierten Flüssigseife ein, die er aus einer der Gästetoiletten seines Arbeitgebers geklaut hat. Ein Luxus, den er sich nicht alle Tage gönnt, aber heute ist nicht alle Tage, sondern sein sechsundsiebzigster Geburtstag, und in diesem Alter freut man sich über jedes Jahr, das man geschafft hat. Bevor er sich den Schaum aus den Haaren spülen kann, klingelt es an der Tür. Carsten beginnt leise vor sich hin zu fluchen. Der Einzige, der heute Abend reinschauen kann, darf und wollte, ist sein alter Kumpel Horst Gerlach. Alle anderen Möchtegerngratulanten hat er vorsorglich auf das Wochenende und ein paar Biere im Gemeinschaftshaus vertröstet. Horst allerdings kann es nicht sein. Erst einmal ist es noch zu früh, zweitens würde Horst direkt in seine Bude hereinplatzen, denn Diskretion, Höflichkeit und Rücksichtnahme gehören nicht zu seinem Verhaltensrepertoire. Carsten angelt sich ein Handtuch und wickelt es routiniert um seinen Kopf. Jetzt sieht er aus wie Charlys Tante, aber ab einem gewissen Alter ist einem das Outfit egal. Dann geht er nach vorn und öffnet die Tür. Im ersten Moment hat Carsten das Gefühl, eine andere Welt zu betreten, denn vor ihm – genau unter dem Bogen der altbelaubten Hecke, der das innere Areal seines Küchengartens bildet – steht eine Frau Anfang sechzig, die aussieht wie seine alte, erste, große, aber verflossene Liebe, eine unirdische Botschaft aus vergangenen Tagen. Die Frau wirkt ausgesprochen appetitlich und Carsten – wie er weiß, denn er hat sich gerade im Spiegel bewundern dürfen – ausgesprochen unspektakulär. Er bekommt eine seinen Blutdruckverhältnissen angemessene rote Birne. Zur gleichen Zeit geht sein Sprachzentrum in den Vorruhestand.
«Äh, kann ich … äh …?»
Die Frau grinst amüsiert und verschränkt die Arme hinter dem Rücken, so wie ein Schulmädchen bei der Chorprobe. Sie wippt kurz auf den Fußsohlen vor und zurück.
«Sind Sie Carsten Kluncker?»
Carsten starrt die Frau sprachlos an.
«Ich möchte nicht stören. Ich sehe, Sie sind gerade, nun ja … Ich könnte später noch einmal
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