Die Sprengmeister und der unheilige Gral: Social Fiction (German Edition)
nagetierähnlicher Vandalen zu beschützen.
Mandy hat ihren Kopf an Carstens Schulter gelehnt. Der Teil ihres Kopfes, der aus Schal, Kragen und Mütze herausragt, ist zart gerötet, was einerseits auf die schmale Außentemperatur, andererseits auf die jüngsten sportlichen Betätigungen auf, vor und neben Carstens Bett zurückzuführen ist.
«Sag mal, Carsten, was genau hast du eigentlich studiert?»
«Wie meinst‘n das?»
«Na ja, du hast mir doch neulich erzählt, dass du studiert hast – nach dieser Sache, Kosovo und so.»
«Gartenbauarchitektur. Jetzt bin ich nur noch Gärtner.»
«Stell dein Licht nicht unter den Scheffel. Du weißt, wie man einen Acker bestellt. Das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. – Und wie war das so als Gartenbauarchitekt ?»
«Na ja, um so richtig als Gartenbauarchitekt Karriere zu machen, dafür war es schon zu spät. Ich habe sozusagen die Beamtenlaufbahn eingeschlagen. Mit Bundeswehrbonus. Zum Schluss war ich der Leiter des Amtes für Stadtentwässerung, Grünflächen und Umweltschutz . Damals, als es noch Steuergelder gab.»
«Stadtentwässerung? Was ist denn das. Steht die Stadt unter Wasser, oder wie?» Mandy schlägt die Augen auf und klappert ein wenig mit den Augendeckeln, was Carsten ganz entzückend findet.
«Genau. Wenn der Stadt das Wasser bis zum Hals steht, kommen wir ins Spiel: die Frösche von der Stadtentwässerung.»
«Komm, sag schon.»
«Ein bisschen komplizierter ist es schon. Aber das ist alles ein alter Hut. Willst du gar nicht wissen.»
«Doch, will ich doch. Ich will alles über dich wissen. Komm, sag, was ist Stadtentwässerung? Was hast du da gemacht?»
Carsten und Mandy haben das Loch im Eis des Grabens erreicht und die ersten Brotstückchen zu den Enten geworfen, was zu einem hysterischen Tumult unter den mageren Vögeln führt.
«Stadtentwässerung kümmert sich um alles, was mit der Zuführung von Frischwasser und dem Ableiten von Brauchwasser zu tun hat. Also, so Sachen wie Planung und Bau von Entwässerungsanlagen, Pumpwerken, Leitungen, Kläranlagen, dann natürlich das Zeug, das zum Betrieb eines Kanalnetzes gehört. Kanalreinigung, Kanalsanierung und gegebenenfalls Reparaturarbeiten. Bis hin zur Rattenbekämpfung.»
«Den Job hat Helmut jetzt. Und was noch?»
«Ach, was weiß ich. Bau von Hausanschlüssen, Betrieb von Kläranlagen und Pumpwerken. Als ich damals aufgehört habe, gabs allein sechsundneunzig Pumpwerke. Das Leitungsnetz hatte zum Schluss eine Länge von fast eintausendachthundert Kilometern.»
«Tausendachthundert Kilometer? Das ist ja bis in die Berge und wieder zurück. Wo soll das denn alles sein?»
«Das meiste davon verlief unterirdisch. Du musst dir vorstellen, dass Münster quasi von einem Netzwerk von Kanälen und Rohrleitungen unterzogen ist. Von übermannshoch bis armdick. Quasi eine Stadt unter der Stadt.»
«Das heißt, dass man über die Kanäle jeden Punkt der Stadt unterirdisch erreichen kann?»
«War zumindest mal so. Wie es heute ist, weiß ich nicht. Ich glaube aber nicht, dass die alles dichtgemacht haben. Irgendwo muss der ganze Kram ja hin.»
«Könnte ich also beispielsweise von der Rothenburg bis zu den Kliniken spazieren, unterirdisch meine ich?»
«Keine Ahnung. Wahrscheinlich. Müsste ich in die Pläne schauen.»
«Welche Pläne denn? Du hast Pläne ?»
Mandys Augen leuchten wie ein Doppelgestirn.
«Hatte ich zumindest mal. Sind im Schuppen, glaube ich. Wenn ich sie nicht weggeschmissen habe.»
«Das ist ja wie die Reise zum Mittelpunkt der Erde. Komm, wir schauen mal, ob du sie findest.»
Mandy packt Carstens Arm und zerrt ihn in die Richtung, aus der sie gekommen sind. Die Tüte mit dem Restbrot fällt zu Boden und verursacht einen mittleren Volksaufstand unter der Entenpopulation, aber Carsten hat andere Präferenzen und lässt die Tiere mit ihren hemmungslosen Begierden allein.
xxii Weihnachten im kleinen Kreis
Heute, Kinder, wird‘s was geben. Der große Saal der Stadtkonzernzentrale leuchtet im Licht der Kerzen wie der Haupttresorraum von Fort Knox. Ein gewaltiger Weihnachtsbaum reckt seine sterngeschmückte Spitze weit hinauf in die gläserne Kuppel des Saals, zwischen rot schimmernden Weihnachtskugeln hängen goldene Engelchen und nuckeln an kleinen, stummen Trompeten. Wer angesichts von so viel Glanz und Gloria keine Festtagsgefühle bekommt, muss unter einer alexithymistischen Störung leiden.
Freiherr von der Hohen Ward steht am Rednerpult und blickt
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