Die Sprengmeister und der unheilige Gral: Social Fiction (German Edition)
beeinflussen? Kann man überhaupt etwas tun? Gibt es überhaupt so etwas wie physische Unsterblichkeit?»
Die Frage steht im Raum wie der Hecht im Teich.
«Nun ja, meine Damen und Herren, sollte ein Wesen existieren, das Beschädigungen in demselben Maße reparieren kann, in dem sie auftreten, wäre es wohl zeitlich unbegrenzt lebensfähig, soviel vorweg. Der Beweis für die Möglichkeit biologischer Unsterblichkeit bei höher entwickelten Spezies ist jedoch noch nicht erbracht, allerdings gibt es Hinweise in der Tierwelt. Der Lebenszyklus der Qualle Turritopsis nutricula beispielsweise zeigt eine einzigartige Besonderheit: Nach Erreichen der sexuellen Reife kann der Organismus durch Nutzung eines speziellen Zellwandlungsprozesses wieder in das frühkindliche Stadium zurückversetzt werden – immer und immer wieder.»
Professor Hellström greift zu einem Glas Wasser und nimmt einen winzigen Schluck.
«An Versuchen, dieses größte Rätsel der Menschheit zu entschlüsseln und das Problem mit dem Altern zu lösen, hat es nicht gemangelt. Die Molekularbiologie beispielsweise befasst sich seit der Mitte des letzten Jahrhunderts mit der Struktur und Funktion der Desoxyribonukleinsäure, besser bekannt als DNS und – in wachsendem Maß – mit weiten Feldern der Biologie und Chemie, speziell der Genetik, der Biochemie und Entwicklungsbiologie. Die Biogerontologie wiederum ist das Teilgebiet der Entwicklungsbiologie, das sich mit der Erforschung der Ursachen biologischen Alterns und deren Folgen, der Seneszenz , also dem Altwerden von Einzelzellen und Organismen, beschäftigt. Seneszenz umfasst die im Allgemeinen nicht reversiblen Prozesse, die zwangsläufig zum Absterben eines Organismus, seiner Organe oder einzelner Zellen führen, denn Altern ist eine der Hauptursachen für den Tod eines Organismus. – Die Grenzen zwischen den Fachgebieten haben sich seitdem zunehmend verwischt, sodass vor zwanzig Jahren eine neue Begrifflichkeit nötig wurde: die Biomolgenik . Wie Sie wissen, ist die Biomolgenik durch die ungezügelte Verwendung künstlicher Mutagene, die Mutationen oder Chromosomenaberrationen auslösen, also das Erbgut eines Organismus verändern, stark in Misskredit geraten. Eine Entwicklung, die unter anderem auch meine Arbeiten in dieser und einigen angrenzenden Disziplinen zum Erliegen brachte – wenn auch nicht für immer. – Im Zuge der Entwicklungen der letzten Jahre – hierzulande, aber auch weltweit – sind die gesellschaftlichen Widerstände gegen dieses hochinteressante und -lukrative Forschungsgebiet zwar nicht verschwunden, zumindest aber auf ein tolerierbares Maß geschrumpft. Der Forscher hat nichts gegen das Korrektiv – solange es seine Arbeit nicht behindert, natürlich. – Wie Sie wissen, ist Münster seit einigen Jahren das informelle Zentrum der Forschungen in dieser Disziplin. So gelang es mir und meinem Team, die technischen Möglichkeiten der induzierten pluripotenten Stammzellen dramatisch weiterzuentwickeln. Ich möchte Sie nicht mit Details langweilen. Kurz gesagt: In diesem Prozess werden vier Gene, die beim Menschen im Embryonalstadium aktiviert sind, unter Zuhilfenahme eines Virus in entwickelte Körperzellen eingefügt. Diese Gene schalten ein Muster der Genexpression – also die Biosynthese von RNA und Proteinen aus den genetischen Informationen – an, das die Körperzellen von adulten in quasi-embryonale Zellen verwandelt, die sich wiederum in beliebige Gewebearten transformieren lassen. Insgesamt wurden fünfundachtzig Gene gefunden, die eine steuer- und reproduzierbare Reparatur von Brüchen in der DNA ermöglichen. Das Verfahren ist zurzeit noch enorm aufwendig, aber wir sind unserem großen Ziel damit einen entscheidenden Schritt näher gekommen: Unsterblichkeit.»
Die Stille im Saal ist so massiv, dass man glaubt, sie greifen zu können. In der vorletzten Reihe erhebt sich eine massige Frau in einer verrüschten Robe. Ihre Stimme dringt wie eine Kettensäge durch den Raum.
«Das ist widerlich. Das ist Blasphemie!»
Ein Mann in der zweiten Reihe erhebt sich.
«Das ist unsere Zukunft!»
Andere Personen folgen seinem Beispiel und beginnen auf die große Frau einzureden. Die Lautstärke schwillt an, aber es dauert noch einige Minuten, bis sich das Ganze zu einem gepflegten Tumult entwickelt hat.
Bevor es zu Handgreiflichkeiten kommen kann, wird das Gebäude von einer heftigen Explosion erschüttert, deren ohrenbetäubender Knall alle weiteren akustischen Reize
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