Die Sprengmeister und der unheilige Gral: Social Fiction (German Edition)
erdrückt. Sekunden später rollt eine Welle aus Druck und Staub in den Saal und tüncht die prachtvollen Gewänder der Anwesenden mit der Einheitsfarbe Grau.
Aus den Lautsprechern plätschert derweil sanft, doch ungehört der Klassiker der Weihnachtsfestbeschallung: «Stille Nacht, heilige Nacht».
xxiii Erste allgemeine Verunsicherung
Mühsam drückt Carsten die Tür des Sozialtraktes seiner Altensammelstelle auf und schiebt sich vorsichtig am Windfang vorbei. Auf seinem Arm trägt er einen Satz Pakete unterschiedlicher Größe. Noch bevor er es schafft, die Tür gegen den eisigen Wind zurück ins Schloss zu schieben, hat ihn ein Pfund Neuschnee überholt. Während die bereits Anwesenden die eine oder andere Unmutsäußerung vom Stapel lassen, tapert Carsten vorsichtig zu einem Tapeziertisch an der rechten Wand und setzt die Last auf der Tischplatte ab. Nur eines der Pakete ist eingepackt und trägt zu allem Überfluss ein üppiges rotes Schleifchen – unschuldiges Opfer halbherziger Dekorationsbemühungen vom Vormittag.
Am ersten Tisch sitzen Rosi und Dora Dorsch, seine nächsten Nachbarn und Grund zahlreicher, aber nie in die Tat umgesetzter Umzugspläne, und richten ihre erodierten Gesichter auf den Neuankömmling.
«Sieh an, die eisernen Schwestern», begrüßt er seine Dauerquälgeister, «was ist los, Mädels. Noch keinen Sex gehabt heute?»
Carsten hat gut reden. Seit Mandy, die Zuckerschnecke, in sein Leben getreten ist, quietschen die Matratzen mindestens dreimal wöchentlich, was Carsten unter seinen geriatrischen Nachbarn den Ruf eines Sexgottes eingetragen hat. Rosi und Dora zumindest scheinen latent beeindruckt, denn sie würdigen Carsten keiner ihrer allseits gefürchteten verbalen Attacken. In schwarze Hosenanzüge gehüllt und stoisch wie die Schreibkräfte eines Bestattungsinstituts, sitzen sie auf ihren Plätzen und knurren leise vor sich hin. Ihre Unterkiefer bewegen sich dabei im Gleichtakt hin und her. Carsten ist es gerade recht, denn er muss noch eine weitere Hürde nehmen: Hanna Fieber, seine persönliche Nemesis in geschlechtlichen Dingen.
«Oh ja, hatte ich schon, danke der Nachfrage», antwortet Hanna ungefragt anstelle der Dorschens, «und ich könnte noch einen kleinen Nachschlag vertragen.»
«Das Fräulein Stangenfieber. Wie unerfreulich. Es ist zwar das Fest der Liebe, aber heute muss ich passen. Dringende Angelegenheiten zwingen mich, gegen meine Instinkte zu handeln.»
Bevor Hanna ihre fette, feuchte Zunge in Marsch setzen kann, ist Carsten vorbeigeglitten. An seinem Stammtisch sitzt nicht wie gewohnt Horst, sondern der Vorzeigeyoungster seiner Wasserburg, die in jeder Beziehung groß artige Sabine Henkelmann. Müde lässt Carsten sich auf seinen Stuhl fallen.
«Sabinchen, was verschafft mir die Ehre?»
Auch sitzend ist Sabine noch einen Kopf größer. Ihr augenfällig schönes Gesicht ist feucht, die großen Augen sind rotgerändert. Carsten versucht den Blickkontakt mit ihren steil vorstehenden Brustwarzen zu vermeiden und fokussiert stattdessen die vollen blassroten Lippen seines Gegenübers. Nach «Oh, du Fröhliche» sieht Sabine nicht aus.
«Ach, Carsten, ich schaff es einfach nicht.»
«Was schaffst du nicht?»
«Ich bin fünfundzwanzig und immer noch Jungfrau. Keiner will mich flachlegen. Ich habe schon alles versucht.»
«Äh, das ist jetzt nett gemeint, Sabine. Aber im Moment kann ich keine … äh, … weiteren Aufträge …»
«Du doch nicht!» Sabine funkelt ihn unter zusammengezogenen, aber nichtsdestotrotz allerliebsten Brauen an. «Ich will keinen alten Hering. Ich will einen jungen Hecht!»
Carsten atmet aus und lehnt sich zurück.
«Na, da bin ich ja beruhigt. Und was hindert dich? Ich meine, du bist …» Carsten zaubert mit den Händen zwei große geschweifte Klammern in die Luft, «na ja, schon ein … Knaller.»
«Riesenböller, wolltest du wohl sagen. Schau mich doch mal an. Einmeterneunundachtzig. Körbchengröße 85D. Wer will denn so was?»
«Na ja, ich könnte mir vorstellen, dass sich da schon der eine oder andere …»
«Ich brauche keinen One-Night-Stand. Ich will einen Freund, jemanden, der mich liebt und für mich da ist. Vorher lass ich keinen ran.»
Carsten reibt sich sein in jüngster Zeit stets hervorragend rasiertes Kinn.
«Also, da wird es natürlich schon schwieriger. Obwohl … warum sollte nicht …»
«Das kann ich dir sagen!» Sabines Augen füllen sich erneut mit Tränen, die kurz darauf beginnen, die Wangen zu
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