Die Sprengmeister und der unheilige Gral: Social Fiction (German Edition)
besser bekannt als Lenin, zugesprochen, der das Ganze zwar später gesagt, aber nicht erfunden hat. Mit einem rein politischen Bezug taucht eine ähnliche Aussage bereits Ende des achtzehnten Jahrhunderts als «Dieses Opium, das du deinem Volk gibst» auf, und zwar im Roman «Juliette» von Donatien Alphonse François Marquis de Sade, der seine Protagonistin ihrem König Ferdinand die Konsequenzen seiner Politik, die das Volk zu Ignoranz statt veränderndem Handeln motiviert, vorhalten lässt.
Die Strategie von Eliten, ihren weniger privilegierten Mitmenschen mittels geeigneter Methoden das Gehirn einzukochen, hat somit eine lange Tradition und erreichte zu Beginn des zweiten Jahrtausends einen neuen Höhepunkt, ehe sie an Wirksamkeit verlor. Sportevents, Serienstars, Musiker, Models, Dummschwätzer, Clans, Gangs, Vereine und Parteien, alle wetteiferten darum, ihre Mitglieder, Anhänger oder Schützlinge erst ideologisch auf ihre Seite zu ziehen und dann für dumm zu verkaufen. Das Ganze wuchs sich schließlich zu einem gigantischen Fegefeuer der Eitelkeiten aus, mit dem die Träger der deutschen Stammreligion medienmäßig nicht mehr mithalten konnten. Obwohl Religion seit dem 17. Jahrhundert als «Priesterbetrug» oder «das eingebildete Interesse der betrogenen Völker, blind bleiben zu wollen», kritisiert wurde, für Voltaire «Religionsstifter Betrüger um der Herrschaft willen waren», oder Religion «als dem Menschengeschlecht schädliche Hirngespinste» tituliert wurden, war es nicht der drastische Mitgliederschwund aus historisch bedingter Vernunft, die lahmen Gottesdienste mit ihrem muffigen Pomp und den todlangweiligen Ritualen, der Missbrauch von Schutzbefohlenen oder die realitätsferne Politik, die den deutschen Kirchen das Wasser abgrub, sondern ein vermeintlich cleverer Schachzug der Finanzbehörden angesichts ausufernder Staatsausgaben: Das steuertechnische Gentlemen-Agreement zwischen Kirche und Vater Staat wurde fristlos aufgekündigt und mit einem Mal mussten die Kirchengemeinden ihren Zehnten selbst eintreiben, wurden die Kassen geprüft, musste Umsatzsteuer abgeführt werden. Nach nur sechs Monaten konnten sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche Konkurs anmelden, die ganze Schore ging an einen griechisch-orthodoxen Konkursverwalter, der sich sofort daranmachte, einem Großteil des Personals eine betriebsbedingte Kündigung auszusprechen und die nicht unerheblichen materiellen Werte wie Kunstgegenstände und Immobilien auf dem freien Markt zu verhökern. Für die Evangelen kam darob jede Hilfe zu spät, die katholische Kirche versuchte ein Überbrückungsdarlehn vom Vatikan zu erhalten, scheiterte aber daran, dass durch den Wegfall der meisten Immobilien keine ausreichenden Sicherheiten mehr zur Verfügung standen. Ein Nothilfefonds der enorm angeschwollenen islamischen Gemeinde Kölns war schnell verraucht, was blieb, war die Fusion mit den evangelischen Glaubensgeschwistern sowie ein Herunterfahren der Aktivitäten auf Notstrombetrieb. Die wenigen noch verbliebenen Gläubigen teilten sich während der darauffolgenden Jahre in zwei Gruppen. Die einen verließen ihren Verein, die anderen radikalisierten sich. Heute ist die Heilige Kirche der unbefleckten Empfängnis Deutschland oder HKD, wie der Laden jetzt heißt, eine Splittergruppe, bestehend aus extrem religiösen Fanatikern, kaum größer als die Scientologen und nicht halb so reich. Gottesdienste sind nur noch für betuchte Gemeinden und ihre Bürger finanzierbar, denn nach dem Wegfall der Inkassohilfe durch den Staat, wird in jeder Kirche wieder bar kassiert und das nicht zu knapp.
Zumindest die ideologische Bescheidenheit der deutschen Kirchenführer hat ein Ende gefunden, jetzt, wo man nicht mehr Volkskirche zu sein hat. In den Predigten ist der christliche Glaube wieder der einzig wahre, der selbstverständlich die Unterwerfung der ganzen Welt anzustreben hat, Islamisten, Juden, Buddhisten und andere minderwertige Religionsgemeinschaften sind ungläubige Hunde, die es von der Erdoberfläche zu fegen gilt, Zölibat und ähnliche Spaßverstärker sind reaktiviert, die wenigen Klöster, die es noch gibt, sind seit der Aufhebung der Gleichberechtigung pickepacke voll. Die Kirsche auf der Torte jedoch, das Tüpfelchen auf dem «i» ist die Wiedereinsetzung der guten, alten Inquisition. Anders formuliert: Für eine überschaubare Bevölkerungsgruppe ist der Laden wieder sexy geworden.
lvii Die alten Kliniken
Unvermittelt
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