Die Sprengmeister und der unheilige Gral: Social Fiction (German Edition)
schleudert der Bus und kommt mit quietschenden Reifen zum Stehen. Carsten ist mit dem Kopf gegen die Seitenwand geschlagen. Leise vor sich hin fluchend reibt er seine zerfurchte Stirn. Einige Haare haben sich aus seinem dürftigen Pferdeschwanz gelöst und hängen ihm wirr ins Gesicht. Mandys Rollstuhl hat sich während des Bremsmanövers einmal um die eigene Achse gedreht, aber seine Fahrerin hat nichts davon mitbekommen.
«Willst du uns umbringen?»
«Dich mit dem größten Vergnügen. Bei deinem Mädel – na, da braucht man kaum noch nachzuhelfen, da fehlt nicht mehr viel, würde ich sagen.»
Carsten würde seinem Chauffeur Provocateur gern ein paar Unflätigkeiten zurückreichen, aber Bullen sind auch nur Menschen. Knapp zwar, aber immerhin. Er hangelt sich nach vorn und wirft einen Blick durch die klatschnasse Windschutzscheibe. Vor ihm erstreckt sich eine ausgewachsene Zaunanlage aus mehreren Schichten rostiger Maschen, nur alle vier Meter durch einen Betonstützpfeiler unterbrochen. Die oberen drei Reihen bestehen aus einem giftig wirkenden Stacheldraht aus ehemaligen NATO-Beständen, dessen rasiermesserscharfe Spitzen im Licht einer langen Reihe von Bogenlampen gefährlich glitzern. Ein angestoßenes, blassgelbes Hinweisschild klärt gebetene und ungebetene Besucher darüber auf, dass der Zaun unter Strom steht, und zwar nicht zu knapp. Dahinter zieht sich eine lange Flucht von unterschiedlich großen Gebäudekomplexen, die zur Hochzeit des medizinisch-technischen Komplexes – zumindest für Schwerkranke – einmal beeindruckend gewesen sein mochten, jetzt aber nur noch Altimmobilien sind, die auf die Abrissbirne warten. Über allem erheben sich die Reste der ehemaligen Bettentürme, eine fehlplanerische Meisterleistung vom Brett eines Aachener Büros, die in den Achtzigern des letzten Jahrhunderts gut eine Milliarde Eingemachtes verschlungen hatte, seit zwanzig Jahren aber nur noch ein monumentales Mahnmal in Sachen Beton gewordener Großmannssucht ist. Vorsichtig schielt Carsten nach oben. Die Betonsilos sind perforiert mit den leeren Öffnungen unzähliger Fenster, einige Scheiben sind noch in den Rahmen, die blinden Oberflächen reflektieren schwach das Licht der Strahler. Schöner Arbeitsplatz für Heckenschützen. Carsten schaudert.
Erkan Ederim ist zwischenzeitlich ausgestiegen um die Nummernschilder abzuschrauben. Jetzt geht er zu einem Bündel nassem Fell, das am Rande der Zufahrtsstraße liegt und scheinbar zu besseren Zeiten ein magerer Schäferhund war. Spekulationen über den Todeszeitpunkt sind obsolet, das Tier kann vor einer Stunde gestorben sein, oder vor einem Monat. «Traurig, so zu enden», denkt Carsten, nicht ganz ohne Rückbezug auf seine eigene augenblickliche Situation, von Mandy ganz zu schweigen. Erkan Ederim hingegen scheint von solchen oder ähnlichen morbiden Anwandlungen frei zu sein. Er gibt dem Kadaver einen Tritt und marschiert zackig Richtung Tor, das er – ohne sich um die Warnhinweise zu kümmern – packt und öffnet. Dann klettert er zurück auf den Fahrersitz. Die Nummernschilder landen im Fußraum.
«War das Tor nicht abgeschlossen?», fragt Carsten vorsichtig.
«Normalerweise ja, heute aber nicht», entgegnet Ederim beiläufig. «Irgendwelche Vorteile muss es ja haben, wenn man zu den Guten gehört, oder?»
Dem ist schwerlich etwas hinzuzufügen, insofern versucht Carsten es gar nicht erst, sondern schwingt sich steifbeinig auf den Beifahrersitz. Mandys Rollstuhl hat er – so gut es geht – mit zwei Spanngurten an einigen Ösen an den Innenwänden festgezurrt. Den Gedanken, Mandy wiederum auf dem Rollstuhl festzuschnallen, hat er aus Pietätsgründen verworfen. Mittlerweile hat der Einsatzbulli wieder etwas Fahrt aufgenommen, vor ihnen liegt eine in die Jahre gekommene asphaltierte Trasse, die sich zwischen diversen, teilweise bis zu zehn Stockwerken hohen Gebäuden dahin zieht. Die meisten Fenster haben keine Scheiben mehr, einige sind vernagelt. Warum sich jemand die Mühe gemacht haben sollte, ist nicht ersichtlich.
«Kaum vorstellbar, dass hier jemand arbeitet.»
Zunächst sieht es so aus, als hätte Erkan Ederim den Einwurf ignoriert, zumindest aber überhört, dann antwortet er doch.
«Was weißt du denn schon. Oberirdisch ist das hier natürlich alles Bauschrott, aber unter der Straße, da muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Sagt man zumindest. Ich weiß auch nicht, warum die Leute alles immer verbuddeln müssen. Jedenfalls soll es hier
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