Die Spur der verlorenen Kinder
der Aufschrift Hell no, I won’t go! Sein Schnauzer war buschig, seine Augen eine blutunterlaufene Straßenkarte ins Nirgendwo.
Er stellte einen Kaffee und ein Glas mit Eiswasser vor sie. Mira trank das Wasser so schnell, dass die Kälte ihr Kopfschmerzen verursachte. Der Kaffee war definitiv nicht kubanisch, würde aber reichen müssen.
Sie nahm die Tasse und verschwand in einen Flur, der nach Schimmel, Feuchtigkeit und kaltem Rauch roch. Selbst die Telefonzelle war retro, eine altmodische Holznische mit Türen, die man zumachen konnte, und einem kleinen Holzsitz. Sie trat hinein, schloss die Tür, setzte sich – und rührte sich nicht mehr. Sie konnte nicht mehr. Ihr ganzer Körper schmerzte und pochte, ihr Magen verkrampfte sich vor Hunger, ihr Blut schien dickflüssig und klebrig wie Sirup. Sie versuchte, durch das unangenehme Gefühl hindurchzuatmen, und zwang sich schließlich, einen Schluck Kaffee zu nehmen. Sie stellte die Tasse ab und zog ihre Geldbörse hervor. Münzen, sie brauchte Münzen.
Sie zog einen Vierteldollar hervor, steckte ihn in den Schlitz und wählte – mit einer Wählscheibe, in dieser authentischen Retrozelle gab es noch nicht mal Wähltasten – Sheppards Handynummer. 15 Cent Wechselgeld fielen unten heraus, und sie hörte die Leitung klicken. Unglaublich, dachte sie. Ein Anruf im Nahbereich für 10 Cent. Noch mehr Retroechtheit. Wie hatte die Bar das nur bei der Telefonfirma durchgesetzt?
»Amt. Welche Nummer wünschen Sie?«
»5-9-2, 6-2-8-4.«
»5-9-2 ist keine Vorwahl auf den Keys, Ma’am.«
»Es ist ein Handy.«
»Ein was?«
»Ein Mobiltelefon.«
»Ich, äh, ich verstehe das nicht, Ma’am.«
Was zum Teufel ist los?
»Möchten Sie vielleicht eine andere Nummer wählen, Ma’am?«
Eine andere Nummer. Natürlich, ihre Nummer zu Hause. Oder des Ladens. Wenn Annie und sie verschwunden waren, würde Nadine den Laden trotzdem aufmachen? Zuerst zu Hause. Sie rasselte die Nummer herunter. Ein kurzes Schweigen, dann sagte die Telefonistin: »Tut mir leid, Ma’am. Diese Nummer ist nicht vergeben. Kann ich Ihnen heute Vormittag in irgendeiner anderen Weise behilflich sein?«
Panik begann sich in Miras Bauch zu bilden. Sie konnte kaum mehr sprechen. »Die Information, ich hätte gern die Auskunft, können Sie mich verbinden?«
»Das bin ich. Welchen Eintrag wünschen Sie?«
»One World Books, Tango Key. 1438 Mango Lane.«
»Einen Augenblick bitte.«
Mira hörte noch weitere Stimmen. Es klang, als würde im Hintergrund eine Art Telefonmarathon stattfinden. Und sie hatte noch keinen einzigen Tastaturanschlag wahrgenommen.
»Ich, äh, es tut mir leid, aber diesen Eintrag gibt es nicht.«
Weißer Lärm explodierte in ihrem Schädel. Sie knallte den Hörer auf und drückte ihren geballten Fäuste auf ihre Augen. Was ist nur los?
10 Cent fielen in die Wechselgeldschale.
Ein Gag, dachte sie. Natürlich. Es war irgendein Gag für eine neue Fernsehsendung, eine neue und ausgefeiltere Variante von Versteckte Kamera oder einer Realityshow. Das würde zu dem ganzen Retrokram hier passen. Aber während sie es noch dachte, spürte sie bereits, dass es nicht stimmte, dass die Situation tatsächlich weit komplexer war als das.
Okay, vielleicht war irgendetwas nicht in Ordnung mit Sheppards Handy. Sie konnte ihn im Büro anrufen. Sie ignorierte die nagende kleine Stimme in ihrem Inneren, die sie erinnerte, dass ihre Privatnummer »nicht vergeben« war und dass es keinen Eintrag für den Buchladen gab.
Sie griff noch einmal nach dem Hörer und wählte die Nummer für das Amt. Diesmal war eine andere Frau dran. »Ihre Nummer bitte.«
»Ich hätte gern die Nummer der FBI-Dienststelle auf Tango Key.«
»Einen Augenblick bitte.«
Endlich.
»Die nächstgelegene FBI-Dienststelle befindet sich in Miami, Ma’am.«
»Das ist unmöglich. Es gibt hier seit mindestens zwei Jahren eine Zweigstelle des FBI.«
»Tut mir leid, der einzige Eintrag, den ich habe, ist eine Nummer in Miami.«
»Darf ich dann bitte die Nummer der Polizei vor Ort haben?«
»Selbstverständlich. Ich kann Sie verbinden. Bitte bleiben Sie dran.«
Klicken. Es klingelte. »Tango Police Department. Lieutenant Holmes.«
»Mein Name ist Mira Morales, Lieutenant. Ich bin seit vierundzwanzig Stunden verschwunden, meine Tochter wurde gestern von Little Horse Key entführt. Ich …«
»Bitte langsam, Ma’am. Fangen Sie noch einmal an. Wie war Ihr Name?«
»Mira Morales. Mir gehört One World Books in der Mango Lane. Meine
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