Die Spur der verlorenen Kinder
Ostküste Tango Keys und Key West in zwanzig Kilometer Entfernung erblickte. Sie stieß den Atem aus, ein so abruptes, so lautes und wundes Geräusch, dass Jake am Straßenrand hielt. Sie riss die Tür auf und taumelte heraus, Jake rief ihr hinterher: »Hey, wo willst du hin?«
Sie rannte geradeaus, Laute drangen aus ihrem Mund, ein großes und schreckliches Gewicht befand sich genau inmitten ihrer Brust. Nein, nein, nein, es stimmt, etwas ist dort draußen in der Dunkelheit geschehen, etwas Unmögliches.
Am Ende eines steilen Abhangs ließ sich Mira im weichen Gras auf die Knie fallen und starrte bloß. Ihre Finger umschlossen ihre Oberschenkel, ein Schluchzen drang aus ihrem Hals. Keine Brücke. Nichts als Wasser. Und da, weit weg, der Umriss von Key West. Zwei Fähren kreuzten in entgegengesetzten Richtungen die Bucht, Fähren von derselben Firma, die die Fähren gebaut hatte, die nach Martha’s Vinyard fuhren, Autofähren, Fähren voller Menschen und Waren.
Es stimmt.
»Äh, Mira?«
Jake ging neben ihr in die Hocke.
»Hör mal, ich weiß nicht, in was für einen komischen Kram du da verwickelt bist, aber wenn ich dir irgendwie helfen kann, sag es einfach.«
Sie zitterte innerlich, als hätte sie eine bestimmte Yogaposition so lange gehalten, dass alle ihre Muskeln bis zum Zerreißen gespannt waren. Sie starrte weiter über die Bucht und mühte sich mit der Wirklichkeit ab, in der es keine Brücke gab. »Weißt du, was Yahoo-Dotcom ist?«
»Nein.«
»Weißt du, was das Internet ist?«
»Nee.«
»Jemals von Bill Gates gehört?«
»Ich glaube nicht. Wer ist das?«
Und jetzt? War sie bereit, diesem Kerl zu vertrauen, bloß weil er nett zu ihr gewesen war? Sie versuchte sich an seine Stelle zu versetzen. Wie würde sie reagieren, wenn er ihr erzählte, dass er aus dem Jahr 2036 stammte? Sie würde sofort auf Abstand gehen oder die Polizei rufen oder beides, nicht wahr?
Ha. Sie wäre viel zu neugierig dafür. Sie würde nach Beweisen fragen. Oder versuchen, ihn zu lesen.
»Jake, ich stecke ziemlich in der Klemme.« Und wie weiter? Welche Lüge? »Mein Exmann … er verfolgt mich. Deswegen war ich auf dem Boot. Auf der Flucht. Und dann … kamen diese Typen an Bord … sie haben mein Geld gestohlen … sie haben mich am Strand liegen lassen und … und sind mit dem Boot abgehauen. Ich … ich kann nicht zur Polizei. Mein Ex ist ein Bulle, er hat viele Freunde bei der Polizei. Er wird erfahren, wo ich stecke. Ich muss irgendwo bleiben, bis ich einen Freund erreichen kann, der mir Geld schickt. Ich bin pleite.«
»Meine Güte«, murmelte er und griff in die Tasche. Er zog seine Geldbörse hervor, öffnete sie und zog ein paar Scheine heraus. »Nimm das. Das sind vielleicht hundert Mäuse«.
Er streckte ihr das Geld hin, und sie fühlte sich plötzlich so schuldig, es zu nehmen, dass sie ihm beinahe die Wahrheit gestanden hätte. Sie grub ein Stück Papier und einen Stift aus ihrer Tasche und schrieb ihm einen Schuldschein. »Hier.«
»Mach dir keine Gedanken. Rum Runners läuft gerade ziemlich gut. Ich habe das Geld.«
»Bitte nimm es.«
Sie drückte ihm den Zettel in die Hand, und er faltete das Geld und legte es auf ihren Rucksack. »Okay, wir sind quitt. Und ich weiß, wo du bleiben kannst. Die Künstlerkolonie in den Bergen vermietet im Sommer Hütten. Es ist abgeschieden, dein Ex findet dich da nie, und ich kann dir einen guten Preis besorgen.«
Die Künstlerkolonie. Es musste dieselbe sein, die es auch in ihrer Zeit noch gab, dachte sie, weit oben in den Bergen im Nordosten. »Was ist ein guter Preis?«
»Vierzig bis fünfzig die Woche, wenn du selbst wäschst und kochst. In den meisten der Hütten gibt es Küchen.«
Das klang viel zu billig. »Das wäre toll.« Sie warf sich den Rucksack über die Schulter und stand auf. »Kannst du mich dort absetzen? Ich habe dir schon viel zu viel Zeit gestohlen.«
»Hey, mir läuft nicht jeden Tag eine hübsche Frau mit so viel rätselhaftem Gepäck wie du über den Weg.« Sein Blick folgte ihr. »Und wenn du mal Zeit hast, wüsste ich gern mehr über dieses Yahoo-Dotcom, das Internet und Bill Gates. Einverstanden?«
»Einverstanden«, entgegnete sie.
Die Künstlerkolonie sah deutlich anders aus als in ihrer Zeit – weniger Gebäude, weniger Leute, viel mehr Land. Wenn ihre Erinnerung sie nicht täuschte, gehörten der Kolonie in ihrer Zeit etwa zwanzig Hektar; Jake sagte, dass es jetzt mehr als doppelt so viel wäre.
Die Hauptstraße, eine
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