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Die Spur der verlorenen Kinder

Die Spur der verlorenen Kinder

Titel: Die Spur der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.J. MacGregor
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zweispurige Straße, die kaum asphaltiert war, wand sich durch einen dermaßen grünen Pinienwald, dass sie das Gefühl hatte, die Farbe in der Luft riechen zu können. Hier und da entdeckte sie zwischen den Bäumen kleine Wege, Leute auf Elektrowagen, auf Fahrrädern, zu Fuß. Linker Hand fand auf einer Lichtung eine Yogastunde statt, was 1968 noch als höchst eigenartig galt. Weiter die Straße hinauf bauten eine Gruppe Männer und Frauen an einigen weiteren Hütten.
    »Sie bauen noch mehr Gebäude«, sagte Jake. »Die Kolonie hat inzwischen schon zwanzig.«
    »Bist du sicher, dass Hütten frei sind?«
    »Ja.«
    »Wem gehört die Kolonie?«
    »Einem reichen Pärchen aus dem Norden, Künstlerfreunde. Ihr Sohn und ihre Tochter leiten sie und sind ziemlich cool. Die einzige Regel, die es gibt, ist: keine Drogen. Wenn man als Künstler ein ganzes Jahr hierbleiben will, muss man sich bewerben, und ein Komitee trifft die Entscheidung. Wenn man erst mal drin ist, sind Kost und Logis frei.« Er hielt vor einem L-förmigen Gebäude. »Ich bin gleich wieder da. Mal sehen, wer im Büro Dienst hat.«
    Kaum war sie aus dem Wagen gestiegen, rieb sich Mira langsam mit den Händen über das Gesicht. Ihre Hände waren echt, ihr Gesicht war echt, ihre Haut war echt. Sie war hier. Auch das war echt. Sie hatte noch keine Vorstellung davon, wie sie hierher gekommen war, welches Wunder oder welcher Wahnsinn dafür gesorgt hatten. Aber sie wusste, dass auch Annie hier war, dass sie, indem sie der dünnen psychischen Spur ihrer Tochter gefolgt war, durch dasselbe Portal geschritten war, durch das dieses Monster ihre Tochter verschleppt hatte.
    Und wer zum Teufel ist dieser Kerl?
    Ihre einzige Erkenntnis über das Monster hatte sie erhalten, als sie die Flasche in der Hand hatte, die er berührt hatte. Sie hatte sich beschmutzt angefühlt. Sie hatte gespürt, dass er böse war, aber welche Mutter würde das nicht spüren? Man musste nicht übersinnlich begabt sein, um zu wissen, dass der Mann, der einem das eigene Kind entführt hatte, böse war. Sie brauchte mehr als das. Sie musste das Warum wissen, das Was, das Motiv, die Geschichte. Dieser Kerl hatte eine Mutter, einen Vater, eine Kindheit, eine Historie. Und er hatte ein Ziel.
    Mira wurde übel, und sie dachte daran, dass sie seit – wann? Gestern? Oder fünfunddreißig Jahren? Wie sollte man das messen? Was für einen Jetlag gab es beim Zeitreisen? – nichts mehr gegessen hatte.
    Sie lachte, dann traten ihr die Tränen in die Augen, sie wandte ihren Kopf dem Fenster zu und drückte ihre Knöchel auf den Mund. Im Glas sah sie Annie als Kind, als Baby, als Kleinkind, ein kleines Mädchen mit großem Charakter. Als sie mit der Vorschule begann, hatte Mira sie hingefahren, sie hatte auf dem Parkplatz gehalten und war mit ihr zu dem Gebäude gegangen. Sie war nervöser gewesen als Annie.
    »Glaubst du, es ist in Ordnung, wenn ich mit dir hineingehe?«, hatte Mira gefragt.
    Es klang wie eine Frage nach Schulvorschriften und Bürokratie, aber in Wahrheit fragte sie, ob Annie in das Gebäude hinein begleitet werden wollte. Und Annie hatte einen Augenblick dagestanden, Miras Hand in ihrer, und dann schließlich den Kopf geschüttelt. Ihr Griff um Miras Hand begann, sich zu lösen. »Ich wette, es ist nicht erlaubt, Mami. Aber ich glaube, heute brechen wir einmal die Regeln.«
    »Ich glaube, da hast du recht«, hatte Mira entgegnet, und sie gingen zusammen hinein, aber Annie hielt nicht mehr ihre Hand.
    Danach hatte sie eine Weile in ihrem Wagen gesessen und das Gebäude angestarrt. Es ging nicht nur darum, das ABC zu lernen. Es war Annies erster Schritt in die große Welt. Sie hatte Mira eingeladen, dabei zu sein, nicht aber, ihre Hand zu halten. Es ist meine Reise, aber Begleitung ist auch in Ordnung. Und die letzten acht Jahre hatte ihre Beziehung genau so ausgesehen. Sie standen einander nahe und kommunizierten gut. Doch zugleich waren sie Mutter und Tochter und im Bereich Bitte räum dein Zimmer auf funktionierten sie nicht besonders toll.
    Annie neigte dazu, vor allem abends, bevor sie einschlief, viel zu reden. Selbst als sie noch klein gewesen war, hatte sie das getan. Wenn Mira auf ihrer Bettkante saß und ihr den Rücken kitzelte oder ihr vorlas, erzählte Annie von der Schule, ihren Freunden, ihrer Welt, und Mira gab ihr Rat – nicht als Hellseherin oder als Mutter, sondern als Freundin. Der Tag auf Little Horse Key war in vielerlei Hinsicht wie diese Einschlafrituale gewesen.

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