Die Spur der verlorenen Kinder
gekommen. Sie haben behauptet, mein Großpapa hätte eine weiße Frau vergewaltigt. Es war eine Lüge. Wir flohen und zogen nach Orlando. Wie … wie kannst du all das sehen, Mädchen?«
Ich weiß es nicht. Ihre Fähigkeit war nie so rein gewesen, so offen und roh, und das verängstigte sie. »Deine Energie ist stark, das macht es leichter.« Hinter diesen dramatischen Bildern hatte Mira noch weitere Details aus Lydias Leben gesehen und gefühlt, ihre Ehe mit einem Mann, der aktiv in der Bürgerrechtsbewegung gewesen war, aber sie waren zu fern, als dass sie sich jetzt noch erinnern konnte.
»Tja, du bist jedenfalls keine Zigeuner-Wahrsagerin, so viel ist sicher. Siehst du die Zukunft wie die Vergangenheit?«
»Manchmal. Ich weiß jedenfalls, dass sie dich dort, wo ich herkomme, eine machtvolle Frau nennen würden.«
Lydia lachte. »Macht? Scheiße. Ich bin eine Schwarze. Schlimmer noch, ich bin eine schwarze Kubanerin. Das heißt, meine Macht ist keinen Haufen Hundekacke wert. Aber wenn du Kohle brauchst, kann ich dir ganz sicher Kunden beschaffen.«
»Im Augenblick bin ich ziemlich pleite. Und ich muss Essen kaufen.«
»Wir bringen dich erst mal zur Hütte. Falls du rumfahren willst, das Büro vermietet Elektrowagen für einen Dollar pro Tag.«
Fünfzig Mäuse für das Zimmer, sieben für den Wagen, noch mehr Geld für Essen, und sie brauchte etwas zum Anziehen. Jakes Geld, dachte sie, wäre in fünf Minuten weg.
Die Hütte war einfach, aber eindeutig ausreichend als Basis für ihr Vorhaben. Die Küche war klein, doch es gab Töpfe und Pfannen und ein paar Teller und Gläser. Sie konnte also Geld sparen, indem sie ihre eigenen Mahlzeiten zubereitete. Sie stellte ihren Rucksack auf das Bett und schaltete die Klimaanlage im Fenster ein. Die keuchte, stotterte, klapperte und begann schließlich, einen leichten kühlen Lufthauch auszustoßen.
»Ist das all dein Gepäck?«, fragte Lydia.
»Ich wurde ausgeraubt«, sagte Mira, diesmal weniger kopflos. »Nur das haben sie nicht mitgenommen.«
» Ausgeraubt? Warst du bei den Bullen?«
Mira schüttelte den Kopf und erzählte Lydia dieselbe Lüge, die sie Jake aufgetischt hatte. Dann wechselte sie das Thema. »Kannst du mir zeigen, wo der Laden ist?«
»Klar. Und dann musst du eine Registrierung ausfüllen und mir einen Scheck schreiben.«
»Meine Schecks haben sie geklaut. Kann ich auch bar zahlen?«
»Umso besser.«
Miras Übelkeit nahm zu, als sie wieder hinaus in die extreme Hitze traten. Das eigenartige Summen in ihrem Kopf eskalierte zu einem Pfeifen und nahm auch an Intensität zu, als suchte es noch seinen idealen Tonumfang. Sie fühlte sich immer unsicherer auf den Beinen, sie war abgelenkt und spürte, dass es nicht bloß der Hunger und die Eigenartigkeit der ganzen Situation waren. Sie wurde krank. Das ergab auf schreckliche Weise sogar einen Sinn. Reisende in fremde Länder bekamen als Erstes die in jenen Gegenden weitverbreiteten Infektionen; man konnte nicht sagen, welche Krankheiten ein Zeitreisender sich einhandeln würde. Welche Krankheiten waren in den Sechzigern normal gewesen? Pocken waren noch nicht ausgestorben, die Leute bekamen immer noch Kinderlähmung, aber was sonst? Sie konnte sich nicht erinnern, sie schien keinen klaren Gedanken fassen zu können.
»Fühlst du dich okay?«, fragte Lydia sie vor dem Laden.
»Nicht wirklich.«
»Komm, ich gehe mit dir. Sie verkaufen ein paar Kräuter und Sachen, die dir helfen werden.«
Der Laden war klein und eng, die Gänge waren so schmal, dass es schwierig war, den Wagen hindurchzuschieben, ohne etwas umzufahren. Die Regale waren voll. Sie griff sich ein paar Dosen Suppe, Eier, einen Laib Brot, Käse, Gemüse und Obst. In ihrer eigenen Zeit gab es in ihrem Supermarkt einen ganzen Gang mit nichts außer Mineralwasser in Flaschen, aber hier sah sie so etwas überhaupt nicht. Vielleicht gab es so etwas in den Sechzigern noch gar nicht. Stattdessen entschied sie sich für eine Flasche Ginger Ale, das zumindest ihren Magen beruhigen würde.
Sie konnte kein Advil finden und musste sich mit schlichtem Aspirin zufriedengeben. Der einzige Orangensaft, den sie entdeckte, war gefroren. Es gab keine vegetarischen Produkte, keinen frischen Fisch. Selbst wenn sie bereit gewesen wäre, Huhn oder rotes Fleisch zu essen, alles war tiefgefroren. Milch gab es in zwei Varianten: Vollmilch und Milchpulver. Sie nahm eine Packung Milchpulver mit, ein Glas Erdnussbutter, dann ging sie hinüber zu den Strandsachen.
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