Die Spur der Woelfin
Gas. Bis dahin hatte Vince zwar
ruhig, allerdings eher gelangweilt in seinem Sitz gesessen, nun konnte sie
sehen, wie er sich merklich verspannte.
»Du hängst anscheinend weder an deinem Leben noch an deinem Lappen«,
meinte er schließlich, und sie lachte.
»Ich hänge an beidem. Aber die Bahn ist frei, und niemand hat mir
verboten, so schnell zu fahren«, erwiderte sie und beschleunigte, nur um ihn zu
ärgern, auf 220. »Ich habe dir doch gesagt, dass du dich wundern würdest. Auch
kleine Autos können fliegen. Und es macht einfach Spaß«, sie stellte die
Bordanzeige auf absoluten Verbrauch, »wenn der Verbrauch dabei kleiner bleibt
als bei euch. Der Sprit ist hier um einiges teurer als in den Staaten.«
Auch er starrte auf die Anzeige und runzelte die Stirn, als sie seufzend
vom Gas ging.
»Kein Stau in Sicht, aber das Meldesystem zeigt hundert«, erklärte sie
genervt. »Innovation Technik.«
Sie erreichten, mit einer einstündigen Mittagspause, den Hof ihrer
Eltern dreieinhalb Stunden, nachdem sie aus Hamburg abgefahren waren. Was sie
auf der Al verloren hatte, hatte Laura, nach dem Baustellenchaos am
Autobahnkreuz, hinter Oldenburg wieder wettgemacht, und selbst Vince hatte
schließlich eingestanden, dass der Wagen -auch wenn er klein und viel zu leise
war — ganz nett sei.
»Sag mal, suchst du ein ruhiges Plätzchen, um mich loszuwerden?« Vinces
gereizter Ausruf brachte Laura zum Lachen.
Schon seit einer halben Stunde fuhren sie über Land immer weiter der
Küste entgegen. Die Gegend war flach, und nur kleine Dörfer unterbrachen die
vielen Felder, die sich längs der Straße erstreckten. Aber selbst diese Dörfer
waren so klein und ruhig, dass man, mit Ausnahme einiger Fahrradausflügler,
glaubte, in einer künstlichen Kulisse zu sein. Es war Montagvormittag, die meisten
waren bei der Arbeit, und selbst ein Neuwagen wie der ihre war eine kleine
Sensation.
»Vielleicht«, erwiderte sie mit einem Augenzwinkern und hörte ein
gereiztes Knurren. »Und wenn ich es richtig anstelle, verscharre ich deine
sterblichen Überreste auf einem der Äcker meines Vaters. Wird bestimmt lustig,
wenn er pflügt und dich dabei ausgräbt.« Er gab daraufhin keine Antwort mehr,
aber als sie einen kurzen Blick zu ihm warf, glaubte sie, ein kleines Zucken
seiner Mundwinkel zu sehen.
»So«, erklärte sie feierlich, als sie das Ortsschild Esens passierten.
»Dies ist der letzte Flecken Zivilisation. Wenn du es dir also noch mal
überlegen möchtest...«
Er bedachte sie mit einem Blick, der deutlich besagte, was er von ihrer Zivilisation hielt, und Laura schmunzelte. Esens war nicht wirklich eine
Weltstadt. Klein, verschlafen mit einigen Neubaugebieten, war es das, was man
sich unter einer typischen nordfriesischen Kleinstadt vorstellte. Ob sie ihm
sagen sollte, dass man mitunter Pech haben konnte und nicht mal Deutsch
gesprochen wurde?
Als sie kaum eine Viertelstunde später auf den Hof ihrer Eltern fuhren,
fühlte Laura sich für einen kurzen Moment in die Vergangenheit zurückversetzt.
Es hatte sich absolut nichts verändert. In dem einen Jahr, in dem sie in Amerika
gewesen war, war hier alles beim Alten geblieben. Selbst das Unkraut, das sich
dreist unter den Bodenplatten hervorgemogelt hatte, schien noch dasselbe wie
bei ihrer Abreise zu sein.
»Willkommen in meiner ganz persönlichen Hölle«, erklärte sie bitter, ehe
sie die Wagentür aufstieß und tief die nach Kühen riechende Luft einatmete.
Das erste Familienmitglied, das ihr über den Weg lief, freute sich
wirklich, sie zu sehen. Vollkommen unverdorben von den Streitereien, die
üblicherweise im Haus vorherrschend waren, stürmte Baldur, der sie selbst nach
einem Jahr noch erkannte, auf sie zu, und Laura stöhnte, als er sie schlicht
ansprang und sie umgeworfen hätte, wäre Vince nicht da gewesen, um sie
aufzufangen. Lachend schlang sie die Arme um den mächtigen Brustkorb des
Tieres, das ihr winselnd durch das Gesicht leckte.
»Baldur«, keuchte sie und versuchte, das bullige Tier von sich zu
schieben. Doch dieses ignorierte ihre nur zur Hälfte ernst gemeinten
Abwehrversuche.
»Was ist das?« Bei Vinces perplexer Frage musste Laura kichern,
wobei sie es endlich schaffte, das Tier wieder mit
allen vier Pfoten auf den Boden zu bekommen. Kläffend und
winselnd sprang es um sie herum, drückte sich gegen ihre Beine, und
kopfschüttelnd beugte sie sich vor, um ihm das struppige Fell zu kraulen.
»Wir haben uns darauf geeinigt, ihn als Hund durchgehen zu
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