Die Spur der Zugvoegel - Muensterlandkrimi
vorgesungen und war selbst kinderlos geblieben. Als man die Kinderkrippe am Stadtrand von Eberswalde schloss, war sie arbeitslos, aber nie mutlos geworden.
»Du?« Überraschung auf ihrem Gesicht.
»Kann ich bleiben?« Honey. Sie wartete. »Zum Trocknen?«
Das Grau ihrer Augen verdunkelte sich, ganz kurz. »Magst du einen Teller Linsensuppe?« Dann lächelte es wieder.
Linsen. Da gab es eine Geschichte, die ich im Kommunionsunterricht gehört hatte. Jakob und Esau. Zwei Brüder. Und Florian war im Rhein. Ich hatte gesehen, wie er unter dem Eis … Das Katholische hatte sich in meinen Zellen verankert. Mutter war vor ihrer Hochzeit konvertiert.
»Danke.« Ich hatte Hunger oder doch zumindest ein Gefühl, das ich früher als Hunger gedeutet hätte. Mein Mund versuchte ein Lächeln. »Ein Handtuch wäre schön.« Um meine Schuhe herum hatte sich eine Pfütze gebildet.
»Komm rein, Junge«, sagte Ilona, fasste nach meiner Hand und zog mich in die Küche. Eine Zigarette verglühte im Aschenbecher, sonst Zitronenduft und Reinlichkeit. »Was verschlägt dich denn ...«
»Kann ich bleiben, bis der Regen aufhört?«
Sie lachte ein raues Lachen, das in einem Husten endete. »Hast du den Wetterbericht gehört? Wir werden nasse Füße bekommen.«
Natürlich hatte sie Recht. Auch wenn nicht die Gefahrbestand, fortgeschwemmt zu werden, ich konnte nicht bis zum Ende der Sintflut hier ausharren, dann würde ich erst nächste Woche nach Hause kommen. Das ging nicht, wegen Honey. Sie musste zurück.
Ilona holte ein Handtuch und wuschelte durch mein Haar, wie sie es beim ersten Besuch ihrer Schwester getan hatte, kurz nach der Wende, im Herbst 1989. Sie hatte mit Mutter geflüstert, über Florian. Mutter hatte geweint, sie weinte bis heute um ihn, und Ilona hatte Äpfel für mich geschnitten. Für einige Tage bestaunte sie die bunten Auslagen in den Schaufenstern, Mutter kaufte ihr zwei schlichte Kleider und einen Bananenlikör bei Dieninghoff. DerWeinhändler schüttelte leicht den Kopf, schenkte den Frauen ein Gläschen ein und alberte eine Weile mit ihnen, bis Mutter errötete und wir endlich auf die Straße hinaustraten. Ein paar Abende lachten Mutter und Tante Ilona miteinander, während Vater kaum den Kopf aus seinem Arbeitszimmer steckte. Doch das überraschte mich nicht. Meine gesamte Kindheit und Jugend hindurch hatte er sich in seinem Arbeitszimmer verschanzt, so erschien es mir wenigstens. Vor Ablauf einer Woche wurde Ilona unruhig. Ich muss zurück, sagte sie, Frieder.
Ihren Mann kannte sie von der Schulbank, hatte ihn mit Hausaufgaben, später mit Mittagessen versorgt. Als sie längst ein Paar waren, hatte Frieder ihr seinen alten Freund Horst vorgestellt. Die Männer hatten zusammen in einem Panzer gesessen und waren durch die Wälder der Uckermark gerattert. Bei einer Übung mussten sie durch die Oder. So was verbindet, sagte Frieder. Die Besatzung eines anderen Panzers fand in so einer Blechbüchse den Tod. Vierjunge Männer. Mitten in Friedenszeiten.
Frieder studierte dann Wirtschaft in Berlin, kehrte zurück und fand seinen Platz in der Gemeindeverwaltung. Horst ging zur Polizei. Als Frieder ihn Jahre später wiederfand, hing er über dem Klo der Bahnhofskneipe und kotzte sich die Seele aus dem Leib. Nach der Wende hatte es keinen Platz mehr für ihn gegeben, in der Polizei nicht und nirgendwo. Eine Weile hatte er im Westen sein Glück versucht und es nicht gefunden. Frieder setzte ihn in Ilonas Küche ab. Sie gab ihm zu essen, wusch seine Kleider und bügelte seine Seele auf. Nach ein paar Wochen fand er Arbeit bei einer Sicherheitsfirma, die verschiedene Objekte bewachte, und seinen Humor wieder.
Ilona begann, den drahtigen Mann mit der schiefen Nase und dem wachen Blick zu mögen. Frieder hatte nichts dagegen. Im Ort wurde natürlich getuschelt. Aber die beiden Männer holten Holz aus dem Wald für die Öfen der Nachbarn, und Ilona nahm die Kleinen, wenn die Mütter zur Arbeit fuhren. So arrangierte man sich und entschied sich fürs Praktische. Nur Mutter sah das anders. Ein paar Mal hatten wir Tante Ilona besucht, doch seit Horst mit im Häuschen wohnte und von Zeit zu Zeit Ilonas Bett benutzte, endeten diese Besuche im Streit, mit Mutters Vorwürfen und zugeknallten Türen, die sich schließlich nicht mehröffnen ließen. Du sollst nicht ehebrechen, waren Mutters letzte Worte an ihre Schwester gewesen. Und du sollst nicht lügen, hatte ich hinzugesetzt, während ich ihrem starrsinnigen Nacken
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