Die Spur der Zugvoegel - Muensterlandkrimi
gekommen war. Jacobiwall. Das weiße Haus lag nur wenige Meter von dem des unfreundlichen Herrn Ostermann entfernt. Mit einem kleinen Türmchen und der vermutlich teuren und einbruchsicheren Haustür war es ein wenig großzügiger und ein wenig nobler als die anderen Gebäude der Straße. Die Frau, die öffnete, wirkte halb. Halblanges Haar, halblanges Kleid, mit einem halben Lächeln und halb durchsichtig, wie Morgennebel. Wäre nicht die Verwunderung in ihrem Gesicht gewesen, würde man an ihrer Existenz zweifeln müssen.
»Ja?« Selbst die Stimme war halb, halblaut und mittelgrau. Der Ebenmäßigkeit ihrer Züge hatte das Alter wenig anhaben können.
»Ich möchte zu Benjamin Achenbach«, sagte Julia und stellte sich vor, indem sie ihren Ausweis hochhielt.
»Er ist nicht da.« Fast schloss sich die Tür wieder. Julia hätte davongehen können und hätte die Frau dahinter nicht länger erinnert als bis zum nächsten Pflasterstein. Aber die Tür schloss sich nicht ganz, sondern öffnete sich erneut.
»Was wollen Sie von ihm?« Die Farbe in ihrem Gesicht entschied sich für einen Ton heller. Die Frau lebte doch.
»Sie sind?«
»Seine Mutter.«
»Frau Achenbach.«
Sie nickte. »Was ist mit ihm? Geht es ihm gut?«
»Wissen Sie, wo er sich aufhält?«
Sie senkte den Kopf. »Ihm ist nichts passiert, ja?« Die Angst gab der Frau Kontur.
»Eigentlich suchen wir nicht nach Ihrem Sohn.« Ein Ehepaar mit Dackel schlenderte vorbei, blieb stehen und starrte Julia an. »Wäre es nicht besser, wenn wir uns drinnen weiter unterhielten?« Frau Achenbach nickte dem Paar eilig einen Gruß zu und ließ Julia in eine Diele ein, winkte, ihr zu folgen und führte sie in ein Wohnzimmer mit alten, teuren Möbeln. Julia sah sich um. Der Raum hatte alles, was ein gutbürgerliches Wohnzimmer brauchte, Bücherschränke, eine Vitrine, großformatige Bilder, einen Flügel. Die helle Ledercouch, auf die Julia sich setzte, bildete dazu einen geschickten Kontrast. Die Vorhänge passten zu den Tapeten und Teppichen. Alles perfekt arrangiert. Kein Ort, an dem Julia hätte bleiben mögen. Ihre eigene Wohnung war weder besonders groß, noch besonders geschmackvoll, noch besonders sauber, dafür war sie bewohnt.
»Kann ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee, Wasser, Orangensaft?« Nun fiel Julia auch der seltsame Zungenschlag der Frau auf, kein Dialekt, mehr eine Färbung, die nicht ins Westfälische passte.
»Sie leben schon lange hier?«
»Ich wüsste nicht, was das mit Ben zu tun hat. Wo ist er?« Sie nahm zwei Gläser aus der Vitrine und goss Wasser aus einer Karaffe ein, nippte an dem einen, nachdem sie sich auf die Kante eines Sessels gesetzt hatte.
»Wo vermuten Sie ihn?«
Die Achenbach rutsche circa drei Zentimeter nach hinten. »Ich vermute gar nichts.«
»Wir suchen nach Rose Marie Lux.«
Die Unscheinbare verzog das Gesicht und gab ein Geräusch von sich, das man als Lachen hätte deuten können. Oder als einen Laut tiefster Qual. Sie murmelte etwas vor sich hin, straffte sich und klemmte eine lose Strähne hinters Ohr.
»Sie ist die Freundin meines Sohnes, wenn man so will.« Die Worte schienen sich nur widerwillig zwischen ihren Zähnen hindurchzuquetschen.
»Sie wissen nicht, wo ich sie finden kann?«
»Warum sucht die Polizei nach ihr? Hat sie jemanden umgebracht?« Keine Regung, ein Gesicht wie Schnee im Februar.
Julia zog die Luft ein, als müsse sie für die nächsten Stunden reichen. »Wie kommen Sie denn darauf?«
Sie gab keine Antwort, presste nur die Lippen aufeinander. »Ich hab Ben immer gesagt, dass dieses Weib nicht gut für ihn ist.«
Eine Sekunde blitzte das Gesicht von Julias Mutter auf. Nicht gut genug. Niemand war gut genug. Keiner von den Jungs, die sie mit heimgebracht hatte. Nicht einmal sie selbst.
»Rose Marie Lux wurde als vermisst gemeldet.«
Wieder dieses Geräusch zwischen Lachen und Missbehagen. »Wer vermisst sie denn?«
»Sie mögen Frau Lux nicht?«
»Ich kenne sie nicht gut genug, um sie nicht zu mögen. Aber gut genug um zu wissen, dass sie nicht zu Ben passt. So eine …« Sie riss sich zusammen. »Sie ist nicht unser Stil. Wahrscheinlich hofft sie auf ein Erbe, wenn Ludger …« Plötzlich glänzten die hellen Augen von Feuchtigkeit. »Er hatte einen Schlaganfall.« Gemächlich löste sich eine Träne von den Wimpern.
»Das tut mir leid«, sagte Julia und wurde von dem Drang, fortzulaufen beinahe überwältigt. Die Träne schien am Kinn festzufrieren.
»Er kann nicht mehr
Weitere Kostenlose Bücher