Die Spur der Zugvoegel - Muensterlandkrimi
nahestand.
Draußen drückte sich Julia in einen Hauseingang und geschützt vor dem Regen faltete sie den Zettel mit der Adresse auseinander. Renate Lux wohnte in Goxel, keine Straße angegeben, nur eine Hausnummer. Leute mit Schirmen hasteten griesgrämig vorüber, dabei war noch Sommer. Sie schaute auf ihre nicht mehr ganz weißen Turnschuh, seufzte und hoffte, dass der Hof geteert oder wenigstens gepflastert sein würde. Noch besser wäre, sie würde sich zu Hause umziehen. Durchnässt bis auf die Unterhose kam sie an, parkte ihr Rad, duschte heiß, warf sich rasch in frische Kleider und nahm diesmal einen Schirm mit. Pfützen überspringend eilte sie zu ihrem Golf, zerrte ein Knöllchen hinter dem Scheibenwischer hervor und zerriss es leise fluchend. Heute war nicht ihr Tag.
Julia nahm die Umgehungsstraße. Die angegebene Adresse musste draußen in der Nähe des Kalksandsteinwerkes liegen. Manchmal war es trotz der Führung der netten Dame im Navigationsgerät nicht ganz einfach, am richtigen Ort anzukommen. Die Nummerierung der Höfe folgte keinem durchschaubaren Prinzip. Andererseits kannte sie sich ganz gut aus in der Gegend. Früher hatten sie verbotenerweise im Kalki gebadet, dem Baggersee am Kalksandsteinwerk. Mit der Clique waren sie morgens los – und abends mit sonnenverbrannten Schultern und den Abdrücken erster Küsse auf den Lippen wieder heimgeradelt. Sie lächelte, während sie in einen Seitenweg einbog, links der Wald, rechts Felder. Bei allem. Ganz dazugehört hatte sie nie. Nirgendwo.
Es regnete kaum noch. Sie ließ die Scheibe herab und der Geruch nach feuchtem Boden strömte herein. Hinter den Wolken Gelb, das Sonne versprach. Aber man konnte sich täuschen. Das hatte sie schon öfter getan. Sicher, es war lange her, und über die erste Liebe lächelte man, wenn man über dreißig war. Sie war irritiert, als dieser Sommer von vor, sie musste rechnen, siebzehn Jahren wieder auftauchte, ein altes Gefühl, beklemmend vertraut. Sie hielt auf dem Seitenstreifen und das Fleckchen Gelb verbarg sich hinter neuen Wolken. Also doch keine Sonne.
Till hatte unter dem langen, dunkelblonden Pony hervorgegrinst, da drüben, auf der Halde hatte er gestanden. Oder war es eine andere? Julia stieg aus und kletterte die kleine Anhöhe hinauf, dahinter lag der See. Die Büsche und Bäume hatte es noch nicht gegeben, nur Sand, Spuren von schwerem Gerät und Disteln.
Zuerst hatte sie nichts von Till erzählt, niemandem. Großmutter hätte ihn nicht gemocht. Der kann dir nicht das Wasser reichen, hatte Mutter später gesagt. Vielleicht nicht, aber was spielte das für eine Rolle, wenn er doch extra eine Kassette aufgenommen hatte, nur für sie? Außerdem, was wusste Mutter schon von Till?
Ein heißer Juli war das gewesen. Und wenn nicht alles ganz anders gekommen wäre, hätte sie nur die Leichtigkeit in Erinnerung behalten, mit der die Tage aufeinander gefolgt waren, deren Glanz und Intensität, das Herumalbern in türkisfarbenem Wasser, das erste Bier, während die Sonne unterging, und ein klein gehaltenes Lagerfeuer, damit es von Weitem nicht zu entdecken sei. Dabei flackerten einige unentdeckte Feuer rund um den See. Da hatte sie vielleicht doch und für einen Augenblick dazugehört.
Till hatte gelacht, geredet und geflachst, er war Klassensprecher und Klassenclown, und sie dabei angeschaut, was Julia gar nicht hatte glauben können. Sie war so dünn und lockenköpfig, dass sie normalerweise nie jemand ansah, nie so. Lange hatte sie gezweifelt, dass er wirklich sie meinen könnte, bis er sie abseits von den anderen an einen Kiefernstamm gepresst und geküsst hatte. Von da an glaubte sie, er ginge mit ihr.
Der Juli nahm seinen Lauf, und es wurde weiter geradelt und gebadet und gelacht. Holst du mich ab, hatte sie ihn gefragt und auf ein paar ungestörte Augenblicke gehofft. Er hatte ihr zugezwinkert, gesagt, dass er sich freue, und war nicht gekommen. Ein paar Tage später hatte sie ihn mit Tanja gesehen.
Von da an war es eigentlich immer so oder so ähnlich gelaufen, mit ihm und mit jedem anderen. Vielleicht war sie einfach nicht gemacht für die Liebe, nur für die Arbeit und für die nun auch nicht mehr. Wahrscheinlich stimmte irgendetwas nicht mit ihr. Nein. Sie wusste, dass sie nicht richtig war.
Sie stieg die Böschung hinunter, kletterte in den Golf und ließ den Motor an. Der Tag war noch einen Deut grauer geworden.
In einer Ecke vor der Scheune gammelten ein Pflug, ein alter Kinderwagen
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