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Die Spur der Zugvoegel - Muensterlandkrimi

Die Spur der Zugvoegel - Muensterlandkrimi

Titel: Die Spur der Zugvoegel - Muensterlandkrimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Kuhlmeyer
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scharf auf Träume, oder?«, fragte sie und lehnte sich zurück. Könnte mal jemand das Fenster aufmachen? Sie legte den Hefter auf den Tisch zwischen ihnen.
    Bayer lachte. »Genau. Wir lieben Träume, und Mutter ist immer schuld.« Dann wurde er ernst. »Was hat es damit auf sich?«
    »Lesen Sie.«
    Er rührte sich nicht. Nach einer Weile, in der es Julia vorkam, als habe jemand einen Korb Holzscheite auf das Höllenfeuer gelegt, sagte er: »Das kann ich nicht.« Die Worte hakten sich fest in der Luft. »Nicht mehr«, fügte er hinzu, und als er aufblickte, nahm Julia zum ersten Mal die grauen Pupillen wahr.
    Er drehte ihr die Schulter zu und kramte auf dem übervollen Tischchen herum. »Ich will keine Operation, wissen Sie?« Er fand seine Zigarillos, stand auf, öffnete endlich das Fenster und zündete sich einen an. Kühle Luft strömte herein. Julia atmete. Bayer lief zwischen den Bücherstapeln auf und ab und fand schließlich eine Kiste mit CDs, suchte eine heraus, die er in den Player schob.
    »Ella Fitzgerald.« Dann setzte er sich wieder, rauchte. »Ich habe Angst davor.«
    Julia schwieg. Sie hätte auch Angst. »Feeling« spielte in einer uralten Version. Sie saß da, hörte Ella zu, nahm dann den Ordner und las vor.
    Leipzig, den 2. Juli 1943
    Die Kirchners haben mich aufgenommen. Ausgerechnet! Das hätte ich ihnen nie zugetraut. Die großartigen Kirchners! Ihr Pelzgeschäft neben meiner Buchhandlung läuft ganz gut, trotz der schwierigen Zeiten. Die Buchhandlung steht immer noch leer. Was sollen diese Deppen und Vandalen auch mit Büchern?
    In der Nacht hat mich Karl Kirchner mit dem Wagen abgeholt und in seine Villa in der Sedanstraße nahe dem Rosental gebracht. Eigens für mich haben sie einen schmalen Raum hinter der Bücherwand ihrer Bibliothek abgetrennt, mehr einen Verschlag, der ein Bett, einen Waschtisch mit Waschschüssel, einen Stuhl und einen Nachttisch enthält. Es musste schnell gehen, hat Grete gesagt und sich beinahe entschuldigt für den geringen Komfort.
    Ich bin gerade zwei Tage hier. Die Sonne fehlt mir jetzt schon. Aber lange kann der Wahnsinn nicht mehr dauern. Wenn die Menschen erst begreifen, was der Kretin mit Bärtchen ihnen antut, werden sie ihm nicht mehr folgen. Sie werden aufstehen und sich gegen ihn wenden. Sie werden die Waffen niederlegen und zu ihren Frauen und Kindern zurück­kehren. Und sie werden sich schämen. Die Sache mit dem Klo ist schwierig. Einmal am Tag kommt Grete und räumt den Eimer weg. Es ist mir peinlich, aber ich kann nichts tun. Ich kann sowieso nichts tun, bis alles vorbei ist. Ich bedanke mich jedes Mal, wenn sie kommt. Aber sie sagt, nicht der Rede wert, und bringt mir Bücher. Das ist der einzige Vorteil an meinem Gefängnis. Ich kann so viel lesen, wie ich will.
    Julia sah Bayer an, der mit geschlossenen Augen zugehört hatte und in seinem eigenen Gefängnis saß.
    »Was ist aus ihm geworden?«, fragte er.
    Statt einer Antwort las Julia weiter:
    Leipzig, den 2. August 1943
    Den ganzen Tag habe ich bei künstlicher Beleuchtung gelesen. Die Augen schmerzen. Ich bräuchte meine Brille, die in der Schublade unter der Kasse liegt. Ich werde Grete nicht bitten, sie zu holen und Johanna sowieso nicht. Sie haben schon viel zu viel für mich getan. Die Tage wollen nicht vergehen. Irgendwann muss das doch alles ein Ende haben. Die Gestapo war bei Johanna und hat nach mir gefragt. Sie war frech und hat gesagt, dass die Herren am besten wissen müssten, wo ich sei. Dann sind sie abgezogen. Aber ich weiß, dass sie wiederkommen. Sie haben mich einmal gehabt und werden mich suchen, bis sie mich finden.
    Wenn ich nur weg könnte, überhaupt etwas tun könnte. Ich habe Johanna gebeten, sich scheiden zu lassen. Sie will nicht, sie ist schwanger. Was soll nur werden? Bald wird das Bare alle sein, und die Konten sind konfisziert. Die Simons haben sich auch nicht scheiden lassen, sagt Johanna. Aber die Simons haben sie abgeholt. Wer weiß, ob sie noch leben. Man hat so viel gehört von denen, die nicht wiedergekommen sind. Die Kirchners geben sich alle erdenkliche Mühe, mir eine Freude zu machen. Wenn ich sie frage, ob sie was wüssten, schweigen sie. Vielleicht wissen sie nichts. Aber würden sie mich dann verstecken? Ich kann nicht mehr schreiben. Die Augen!
    Nachdem Julia geendet hatte, sang Ella »The man I love.«
    »Das war eine schlimme Zeit.« Er nickte und Julia schien es, als träten eigene Erinnerungen hinter seine trüben Augen.
    »Warum haben Sie den

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