Die Spur des Verraeters
aus. »Die Geister von holländischen Barbaren, die auf Deshima gestorben und zurückgekommen sind, um ihre Landsleute heimzusuchen.«
Abergläubischer Unsinn – oder steckte mehr dahinter? »Wurden die Lichter auch gestern Nacht gesehen?«, fragte Hirata und versuchte, die Erscheinungen mit dem Verschwinden des holländischen Barbaren in Verbindung zu bringen.
»O ja.« Wieder paffte der alte Mann an der Pfeife und stieß eine Rauchwolke aus. »Wie schon viele, viele Male in den letzten zwei Jahren.«
»Ist jemand diesen Lichtern schon einmal gefolgt?«, fragte Hirata gespannt.
»O nein! Denn die Geister töten Menschen und fressen deren Herzen! Alle Leute aus der Stadt halten sich vom Hafen fern, wenn die Lichter erscheinen.«
Der schwerhörige Alte meldete sich zu Wort. »Ich werd Euch sagen, was die Lichter sind, junger Fremder. Dämonen! Der Zauberspruch von dem chinesischen Priester hat sie herbeigerufen! Liu Yun heißt er und ist der Abt eines Tempels für chinesische Seeleute. Und Liu Yun hasst die Holländer – o ja! Besonders den, der verschwunden ist. Liu Yun hat gewiss einen Dämon beschworen, der diesen Barbaren entführt hat.«
Hiratas Herz schlug schneller. Endlich war ein Name gefallen. Konnte dieser Liu Yun tatsächlich für das Verschwinden Jan Spaens verantwortlich sein? Hatte dieser Abt den Holländer entführt?
»Es war nicht der chinesische Priester«, rief der Pfeifenraucher.
»Doch, doch!«, rief der Schwerhörige zurück. »Der war’s!«
Der Pfeifenraucher streckte seinen dürren Arm aus und verpasste dem Schwerhörigen eine Ohrfeige. »Du alter Narr! Es waren die Geister der Toten, die den Barbaren mitgenommen haben.«
»Nein, nein, nein! Es war der chinesische Priester …!«
Rufe und eilige Schritte machten dem Streitgespräch ein Ende. Hirata schaute hinaus auf die Straße und stöhnte auf, als er die beiden Wachsoldaten sah, die keuchend und mit roten Gesichtern auf ihn zugerannt kamen. Ihre Uniformen waren mit einer klebrigen Mischung aus Erde, Reiswein und Eigelb verschmiert. »Ohne uns dürft Ihr nirgendwohin!«, rief der hoch gewachsene Posten wütend, nachdem er und sein Kamerad ins Teehaus gestürmt waren. »Ein Befehl von Statthalter Nagai!«
»Warum hasst Abt Liu Yun die holländischen Barbaren?«, fragte Hirata den Pfeifenraucher, ohne die Wachsoldaten zu beachten. »Und wohin könnte er den toten Holländer gebracht haben?«
Doch die beiden Wachsoldaten schüchterten die alten Männer ein. Während der Pfeifenraucher auf übertriebene Weise den senilen Greis vortäuschte, indem er begriffsstutzig blinzelte, rief sein schwerhöriger Freund: »Hä? Hä? Hä?«
Hirata seufzte, dankte den beiden Alten, bezahlte den Reiswein und erhob sich. Seine Enttäuschung hielt sich in Grenzen. Vielleicht spiegelten diese Gerüchte irgendeine Wahrheit über Deshima wider, die – erst einmal aufgedeckt – den Verbleib des holländischen Barbaren preisgab. Als Hirata zwischen den beiden Wachen die Straße hinaufging, überlegte er bereits, wie er ihnen entkommen konnte.
Jedenfalls würde er Sano irgendwie helfen, Direktor Spaen zu finden. Auf diese Weise würde er, Hirata, seine höchste Pflicht als Samurai erfüllen und Sano seine Treue beweisen. Hirata hatte bei seinem ersten Herrn versagt. Er wollte lieber sterben, als auch bei Sano zu versagen.
5.
A
ls die Schaluppe in den Hafen von Nagasaki einlief, bemerkte Sano, dass die Zahl der Soldaten in der Hafengegend erheblich zugenommen hatte. Auch Stadtbewohner strömten aus den steilen Straßen an den Strand. Rufe schallten über das Wasser, während die Soldaten versuchten, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Doch der Pöbel drängte sich um irgendeinen Gegenstand, der allgemeines Interesse erregte und sich direkt am Ufer zu befinden schien. Sano, Dolmetscher Iishino und die Besatzung der Schaluppe lehnten sich über die Reling, um zu beobachten.
»Was ist da los? Was ist da los?«, sagte Iishino, reckte den Hals und hüpfte in die Höhe, um besser sehen zu können.
Schließlich näherte die Schaluppe sich der Station der Hafenpatrouille – ein Gebäude mit einem Wachturm, der auf langen Pfosten errichtet war, die hoch über die Wasseroberfläche aufragten. Auf der Anlegestelle stand eine Gruppe Beamter, bei deren Anblick Sano eine düstere Vorahnung beschlich. Nachdem die Schaluppe angelegt hatte, sprang Sano als Erster von Bord.
»Was ist da drüben los?«, fragte er und wies auf die Menschenmenge. »Ist irgendwas
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