Die Spur des Verraeters
passiert?«
Der Hauptmann der Hafenpatrouille trat vor und verbeugte sich. » Sôsakan-sama . Die Suche nach dem vermissten Barbaren ist zu Ende. Seine Leiche wurde soeben an den Strand gespült.«
»Aus dem Weg! Lasst uns durch!«, riefen die Beamten der Hafenpatrouille, die Sano von der Schaluppe zum Strand und bis zu der Stelle begleitet hatten, wo der Leichnam des holländischen Händlers angespült worden war. Die Männer bahnten sich einen Weg durch die Menge, die sich eingefunden hatte, um das Ende der großen Menschenjagd zu erleben.
Feiner Kies und Sand dämpften Sanos Schritte, als er an den Gaffern vorüber zum Strand ging. Dolmetscher Iishino hielt sich dicht an seiner Seite. Die fast halbkreisförmige Bucht endete zu beiden Seiten an großen Lagerhäusern. Dahinter, auf der rechten Seite, konnte Sano den Palisadenzaun erblicken, der die gesamte Insel Deshima umgab. Vor ihm stand ein Kreis aus Soldaten und Beamten; die Mienen der Männer waren ernst. Als Sano näher kam, wich seine anfängliche Erleichterung, dass man Direktor Spaen gefunden hatte, tiefer Enttäuschung.
Die Nachforschungen waren zu Ende. Sano war außer Gefahr. Das holländische Schiff draußen vor der Küste und die Barbaren auf Deshima gehörten nun nicht mehr in seinen Verantwortungsbereich. Jetzt musste er nur noch einen Bericht über die Geschehnisse des heutigen Tages schreiben und den Rest seiner Zeit in Nagasaki damit verbringen, eine flüchtige Inspektion der Stadt vorzunehmen und sich aus allem Ärger herauszuhalten, bis er nach Edo zurückkehren durfte. Er und Hirata konnten die Wochen und Monate allenfalls damit totschlagen, indem sie malerische Orte und Aussichtspunkte besichtigten und die Schänken am Strand besuchten.
Doch Sanos Inneres sträubte sich gegen den Gedanken monatelangen sinnlosen Nichtstuns. Er erinnerte sich an die Jagd nach den Leichendieben in Edo, an die schwierigen Nachforschungen, an den entscheidenden Schlag und den triumphalen Sieg. Das war seine Aufgabe. Das war seine Bestimmung.
Ein Offizier löste sich aus der Gruppe der Soldaten, trat vor und verbeugte sich vor Sano. »Wir haben den Körper so liegen lassen, wie wir ihn gefunden haben«, sagte er unsicher. »Unter den gegebenen Umständen erschien es uns besser, ihn nicht anzurühren.«
Bevor Sano sich erkundigen konnte, was der Mann damit meinte, kam Hirata zu ihm geeilt, begleitet von zwei Wachsoldaten – der eine klein und dick, der andere dünn und hoch gewachsen. Gleichzeitig traf Statthalter Nagai ein, begleitet von Ohira, dem Kommandanten der Wachmannschaft auf Deshima, und zwei anderen Männern.
»Macht den Weg frei!«, rief Nagai.
Als die Stimme des Statthalters erklang, öffnete sich der Kreis der Soldaten, um Nagai und seine Begleiter sowie Sano und Hirata durchzulassen; dann schloss er sich wieder schützend um die Männer, die auf Direktor Spaens Leiche hinunterstarrten, die im feuchten Sand des Strandes lag.
Der Barbar war ein hoch gewachsener, muskulöser Mann. Er lag auf dem Rücken, Arme und Beine ausgebreitet. Sein kantiger Kiefer, das feste Kinn und die breite Stirn spiegelten noch immer die männliche Kraft wider, die er im Leben besessen haben musste. Nun aber war sein Gesicht weiß und gedunsen, und der Tod hatte jeden Ausdruck in den Augen gelöscht. Jan Spaens halb offener Mund gewährte den Blick auf eine grässlich geschwollene Zunge und kräftige Zähne. Strähnen seines langen, strohfarbenen Haares bewegten sich geisterhaft im Wind. Er war nur mit einer knielangen schwarzen Hose bekleidet. Wenngleich die nackten Füße Spaens weiß und vom Wasser angeschwollen waren, so waren sie doch unverkennbar menschlich. So viel zu der Theorie, die Barbaren besäßen Hundefüße.
Sano drehte sich der Magen um, als er auf Brust und Leib des Toten blickte, die von klaffenden Wunden bedeckt waren. Die schlimmste Verletzung befand sich auf der linken Brustseite; es sah aus, als hätte dort ein wildes Tier seine Zähne in das Fleisch des Holländers gegraben. Sano konnte zerfetztes rosa Gewebe und die gesplitterten weißen Knochen sehen. Schnecken und winzige Krabben hatten sich in der Wunde festgesetzt. Fliegen umschwärmten summend den Leichnam; im Haar hatte sich Seetang verfangen. Doch die Leiche hatte noch nicht lange genug im Wasser gelegen, dass der Verwesungsprozess die entsetzlichen Zeichen der Misshandlung hätte tilgen können – Wunden, die Direktor Spaen offensichtlich von Menschenhand zugefügt worden waren.
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