Die Staatskanzlei - Kriminalroman
findet, bevor noch mehr passiert.“
Für einen kurzen Moment spielte Wagner mit dem Gedanken, seiner Kollegin anzuvertrauen, dass er sich in letzter Zeit beobachtet fühlte. Er verwarf den Gedanken. Sie würde ihn für einen Hasenfuß halten. Seine Chancen, Jakobs Nachfolger zu werden, würden rapide sinken. Ängstliche Männer waren das Gegenteil von attraktiv.
Er stand auf. „Ich muss leider, der Staatssekretär kann verdammt ungemütlich werden, wenn man zu spät kommt. Sag mal, wollen wir heute Abend essen gehen? Ich lade dich ein.“
Ihr Gesicht nahm einen abweisenden Ausdruck ein. Sie wollte sich mit ihrer Freundin Monika treffen, ein Gespräch unter Frauen. Auf dem Weg in Haders Büro lief ihm Ballauf über den Weg. Er tat sehr geschäftig, beantwortete Wagners Gruß nur mit einem kurzen, fast schon brüsken Kopfnicken. Vielleicht hat Hollmann recht und ich sollte mich in den nächsten Flieger setzen, sagte sich Wagner.
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I LTEN /S EHNDE
Kaum hatte Verena die Stadtgrenze verlassen, erwartete sie eine ländliche Umgebung: Wiesen, Felder, an den Straßenrändern kahle Bäume. Das war der Vorteil der niedersächsischen Landeshauptstadt. Egal in welche Richtung man fuhr, man war von Natur umgeben. Ihr Ziel war das Klinikum Wahrendorff. Es war in einem ehemaligen Gut in Ilten, unweit der Landeshauptstadt, untergebracht.
Die weitläufige Parklandschaft, die gepflegten Wege mit Sitzbänken und altem Baumbestand, alles strahlte Harmonie und Frieden aus. Über das Gelände verstreut standen mit frischer Farbe getünchte Villen aus dem vorigen Jahrhundert. Sie befand sich in einer Enklave. Nur zu gerne hätte Verena sich hier für einige Tage verkrochen. Ausschlafen, die Ruhe genießen, in der weitläufigen Parkanlage spazieren gehen, das wär’s, dachte sie, während sie ihr Auto auf dem Parkplatz vor dem Hauptgebäude abstellte.
Assistentin Schramm hatte herausgefunden, dass der Klinikkomplex neben einer Tagesklinik für ambulante Fälle über eine Klinik mit mehr als 100 stationären Behandlungsplätzen verfügte, knapp ein Viertel davon in einem geschlossenen Sicherheitstrakt.
Die nette Dame am Empfang verwies sie auf die Klinik im Park, dort würde sie den Chefarzt der Psychiatrie, Doktor Klein, antreffen.
Als sie das Gebäude betrat, tat sich ein ganz anderes Bild vor ihr auf. Im Foyer saßen Menschen, die Kollege Hirschmann als „Abschaum der Menschheit“ bezeichnet hätte. Das äußere Erscheinungsbild ließ auf Obdachlose, Drogensüchtige und Alkoholiker schließen. Verena verspürte Mitleid. Und unwillkürlich bekam sie ein schlechtes Gewissen. Trotz ihres Beziehungsfrustes stand sie auf der Sonnenseite des Lebens. Diese Menschen nicht. Einer der Männer schimpfte lautstark vor sich hin. Aggressive Blicke musterten sie. Sie musste den anderen wie ein Fremdkörper vorkommen. Eine Frau in Schwesterntracht kam auf sie zu. Nachdem sie sich vorgestellt hatte, wurde ihr der Weg in das Büro des Chefarztes gewiesen. Auf dem Gang standen einige Betten mit Patienten. Die meisten dämmerten vor sich hin.
Zu ihrer Überraschung war Dr. Klein allein. Für einen Chefarzt war er ungewöhnlich jung, sie schätzte ihn auf Ende dreißig. Aus seinem rundlichen, offenen Gesicht lächelte er sie an. Der Händedruck, mit dem er sie begrüßte, war so fest, dass es wehtat.
„Lassen Sie uns in das Pub gehen. Dort sitzt es sich besser“, schlug er vor.
Sie dachte, sich verhört zu haben. Doch es gab tatsächlich ein Pub, mitten im Park. Innen war alles vom Feinsten. „Für Patienten ist der Zutritt verboten“, erklärte er.
Sie war trotzdem überrascht. Eine Suchtklinik und ein Pub, das war wie eine Schokoladenfabrik in einer Diätklinik.
Für sich bestellte er Irish Coffee, sie entschied sich für die Variante ohne Schuss. Dazu wurden Kekse gereicht. Was er für sie tun könne, wollte er wissen und hörte ihr aufmerksam zu. Dann nickte er nachdenklich. „Ich halte die Überlegungen von Dr. Bertram für nachvollziehbar. Ob Ihr Verdacht zutrifft und die von Ihnen erwähnte Mitarbeiterin der Staatskanzlei die Gesuchte ist, dazu kann ich nichts sagen. Sie müssen mit dem Hausarzt der Frau sprechen.“
Verena ließ nicht locker. War Frau Terberg jemals im Klinikum behandelt worden? Ihr Ansinnen stieß auf Bedenken. Schließlich ließ der Chefarzt sich doch noch überzeugen, dass zwei Morde stärker wogen als Datenschutzbestimmungen. Telefonate auf seinem Handy folgten. Bereits nach wenigen Minuten stand fest,
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