Die Staatskanzlei - Kriminalroman
dass eine Frau mit dem Namen Gesine Terberg niemals Patientin in der Klinik gewesen war. Jedenfalls nicht in den letzten acht Jahren. Länger wurden die Patientenakten nicht aufgehoben. Dr. Klein registrierte ihren enttäuschten Gesichtsausdruck richtig und hatte einen Ratschlag parat. „Es gibt in der Region noch andere Kliniken, die seelisch Kranke behandeln. Fragen Sie dort nach.“
Als Verena die Namen der Kliniken aufschreiben wollte, winkte er ab, versprach ihr ein Faltblatt mit einer Übersicht der entsprechenden Kliniken, das sie sich am Empfang abholen könne.
Ein Gespräch über Schizophrenie und die Wahrendorff Kliniken folgte. Der Arzt gab sich gesprächig. „Hier in Ilten werden neben Drogensüchtigen, Alkoholikern und nervenkranken Patienten auch Menschen behandelt, die an Schizophrenie erkrankt sind. Zwei Drittel davon leiden unter Wahnvorstellungen. Wir wissen bislang wenig darüber, wie es dazu kommt. Biochemische Veränderungen können ebenso die Ursache sein wie traumatische Erlebnisse. Außerdem haben wir noch Patienten mit leichteren Krankheitsverläufen, die ambulant behandelt werden. Allerdings kann niemand eine sichere Prognose über den weiteren Krankheitsverlauf abgeben. Die Krankheit kann jederzeit schlimmer werden. Hinzu kommt, dass die Zahl der Spätschizophrenien seit Jahren steigt.“
Verena schob den Teller von sich weg. Vier Kekse waren mehr als genug. „Was muss ich mir unter einer Spätschizophrenie vorstellen?“, hakte sie nach.
„Das sind Erkrankungen, die erst nach dem vierzigsten Lebensjahr auftreten. Am meisten betroffen sind Frauen zu Beginn der Wechseljahre. Welchen Einfluss Hormonveränderungen auf den Ausbruch der Erkrankung haben, kann man noch nicht mit absoluter Sicherheit sagen. Dass sie einen Einfluss haben, ist sicher. Gerade in diesen Fällen sind die paranoiden Symptome besonders stark ausgeprägt.“
Wechseljahre, sozial isoliert, über 40, es passte. Alles lief auf Gesine Terberg hinaus.
„Was können wir tun, um die Person zu identifizieren?“
Er schüttelte nachdenklich den Kopf. Dann seufzte er. „Falls Ihr Verdacht zutrifft, sprechen Sie mit dem Arzt der Frau. Falls nicht, kann ich Ihnen leider auch nicht weiterhelfen. Ich bin seit vier Jahren in dieser Klinik tätig und habe ein recht gutes Gedächtnis. Mir ist niemand meiner Patienten in Erinnerung, der mit der Staatskanzlei zu tun hatte. Andererseits erzählen mir die Patienten nicht alles. Und, wie gesagt, es ist nicht ausgeschlossen, dass wir es mit einer Frau zu tun haben, die erst nach ihrem vierzigsten Lebensjahr krank geworden ist und bislang nicht behandelt wird.“
Verenas frustrierter Gesichtsausdruck ließ den Arzt nicht ungerührt. „Ich will mich aber gerne bei meinen Kollegen in der Region umhören“, versprach er. „Vielleicht können die sich an eine Patientin erinnern, die mit der Staatskanzlei zu tun hatte oder immer noch hat. Am kommenden Samstag findet das Jahresabschlusstreffen der Psychiatrieärzte aus der Region Hannover statt. Wir verbinden das Nützliche mit dem Angenehmen. Vormittags gibt es Vorträge, nachmittags eine Weihnachtsfeier. Gut möglich, dass wir Glück haben und die große Unbekannte doch noch finden.“
Glück? Das Wort kam seit Monaten, oder waren es Jahre?, in ihrem Leben nicht mehr vor.
Als sie später durch den Park zu ihrem Auto ging, kam ihr eine Gruppe von Frauen in Begleitung eines Pflegers entgegen. Keine von ihnen sah wie eine psychisch Gestörte aus. Sie wirkten wie ganz normale Frauen. Aber, wie sahen psychisch Kranke überhaupt aus? Vermutlich nicht anders als sogenannte normale Menschen. Als sie auf Augenhöhe mit der Gruppe war, löste sich eine der Frauen plötzlich und lief auf sie zu, das Gesicht war wutverzerrt.
„Lass mich in Ruhe!“, schrie sie Verena an. Der Pfleger stürzte auf die Frau zu und zog sie von ihr weg. Die anderen Frauen standen wortlos dabei.
„Gehen Sie doch endlich. Sie merken doch, dass Sie die Patientin aufregen“, forderte er Verena auf.
Auf der Rückfahrt ging ihr das wutverzerrte Gesicht der Frau nicht aus dem Sinn.
63
B ERLIN
Endlich hatte es geklappt und Britta König hatte Milner am Telefon erreicht. Seine Reaktion auf ihren Gesprächswunsch war schroff. Erst nach beharrlichem Zureden stimmte der Geschäftsmann einem Treffen in seinem Büro in Berlin zu. Jetzt saß die Ministerialbeamtin im ICE nach Berlin, der wie immer brechend voll war. Die Hälfte der Mitfahrer schien krank zu sein. Um sie
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