Die Staatskanzlei - Kriminalroman
seine Augen ließ sie zusammenzucken. Sie waren völlig leer, wie leblose Steine. Dieser Mann würde vor nichts zurückschrecken. Plötzlich hatte sie das beängstigende Gefühl, dass sie dem Mörder von Heise und Niemann gegenübersaß.
Was, wenn er auch mit ihr kurzen Prozess machte? Nein, sprach sie sich selber Mut zu. Das würde nicht passieren. Sie befand sich auf einer offiziellen Dienstreise, die Staatskanzlei würde ihm sofort die Polizei auf den Hals hetzen, wenn sie nicht im Büro erschien. Milner konnte es sich nicht leisten, ihr etwas anzutun. Trotzdem war sie erleichtert, als der Schrank mit den Tätowierungen sie zum Ausgang brachte. Vor der Haustür stand eine Gruppe schnatternden Frauen, dem Aussehen nach Araberinnen, die sie freundlich anlächelten. Sie lächelte zurück, sie war in Sicherheit.
Auf der Rückfahrt im ICE, der dieses Mal nur zehn Minuten Verspätung hatte, versuchte sie Gregor über ihr Handy zu erreichen. Der Tätowierte hatte sie an ihren aktuellen Liebhaber erinnert, auch wenn dieser nicht ganz so kräftig und deutlich freundlicher war. Und jünger, erst Ende zwanzig. Ihre häufig wechselnden Liebhaber waren niemals älter. Die Liaison lief bereits seit vier Monaten, für ihr Dafürhalten deutlich zu lang. Sie suchte keine ernsthaften Beziehungen, sie wollte ihr Vergnügen. Und vor allem Sex. Es war höchste Zeit, ihn in die Wüste zu schicken. Wie an den Tagen zuvor meldete sich nur seine Mailboxansage. Sie nahm sich vor, heute Abend zu ihm zu fahren. Sie wollte es endlich hinter sich bringen und Schluss mit ihm machen.
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H ANNOVER
„Ich habe alles getan, was in meiner Macht stand, aber der Minister ist hart geblieben. Und als oberster Chef der Polizei trägt er die Verantwortung.“ Der Direktor war persönlich in Verenas Büro gekommen, um ihr die schlechte Nachricht zu überbringen. „Schon gut“, sagte sie. Nichts war gut. Es war das erste Mal, dass sie als Leiterin einer Soko abberufen wurde. Sie hatte damit rechnen müssen und doch tat es verdammt weh. Trotzdem konnte sie es dem Minister nicht verdenken. Sie kam einfach nicht weiter. Ihr einziger Hoffnungsschimmer war das Ergebnis der DNA-Analyse, das, so hoffte sie, Gesine Terberg als Täterin entlarven würde. Es stand noch aus.
Ansonsten galt das Motto: Still ruht der See. In der Staatskanzlei hatten sich alle bedeckt gegeben. Schizophrenie? Schon mal gelesen, aber niemals damit in Berührung gekommen. Selbst der gesprächige Siegbert Meyer war ungewohnt wortkarg gewesen.
Auch die Unterredung mit dem Sachbearbeiter der Krankenkasse von Gesine Terberg war nicht ergiebig gewesen. Immerhin hatte der Mann ihr den Namen ihrer Ärztin genannt. Es hatte erheblicher Überredungskünste bedurft, bis die einem Gespräch zugestimmt hatte. Dabei hatte sich herausgestellt, dass Gesine Terberg wegen einer schweren Depression monatelang krankgeschrieben worden war.
Die Worte der Ärztin hatte sie noch gut ihm Ohr. „Depressionserkrankungen sind im Vormarsch in diesem Land. Wundert Sie das? Anders als unsere Vorfahren leiden die Menschen nicht an materiellen Entbehrungen, sie leiden unter Einsamkeit, vor allem, wenn sie älter werden. Sie kommen sich nutzlos vor, fragen sich nach dem Sinn des Lebens und finden keine Antworten. Und weil sie allein sind, kommen sie immer mehr ins Grübeln, ein verhängnisvoller Kreislauf. Am Ende stehen Antriebslosigkeit, Verbitterung und Depressionen. Gesine Terberg ist eine sehr einsame Frau. Sie hat viel mitgemacht in ihrem Leben. Aber eine Mörderin ist sie bestimmt nicht und schizophren schon gar nicht.“
Zu ihrer Überraschung sprach die Ärztin sie auf eine weitere Patientin an. Frau Niemann. „Es wäre gut, wenn Sie den Mörder beziehungsweise die Mörderin bald finden. Frau Niemann gehört nämlich auch zu meinen Patientinnen und es geht ihr sehr schlecht. Es würde ihren Gesundungsprozess befördern, wenn Sie endlich erfährt, wer ihren Mann auf dem Gewissen hat.“
Meinen eigenen auch, hätte Verena gerne erwidert, es aber bei einer nichtssagenden Floskel belassen, bevor sie sich von der schnippischen Ärztin verabschiedet hatte.
Ritter musterte sie aus mitfühlenden Augen. Sie wollte sein Mitleid nicht. Sie wollte seine strahlende Heldin sein, eine erfolgreiche, begehrenswerte Frau.
„Nehmen Sie es nicht zu schwer“, hörte sie ihn stattdessen sagen. „Der Minister steht unter Druck. Seine Entscheidung ändert nichts daran, dass Sie mehr Erfolg als alle anderen
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