Die Staatskanzlei - Kriminalroman
gering. Anders als auf den Neujahrsempfängen und Personalversammlungen war heute gedämpfte Tonlage angesagt.
Die letzte Zusammenkunft „aus besonderem Anlass“ lag fast zwei Jahre zurück. Damals hatte der Bundespräsident Niedersachsen einen Besuch abgestattet. Die Mitarbeiter waren aufgefordert worden, sich im Foyer einzufinden, um dem deutschen Staatsoberhaupt durch „angemessenen, nicht zu lauten, aber deutlich hörbaren Applaus“, wie es in der Hausmitteilung hieß, Respekt zu zollen. Diesmal war Mord Anlass der Versammlung.
Erste Spekulationen machten die Runde. Auch wenn Heise als Chef und Kollege gleichermaßen unbeliebt gewesen war, war er einer von ihnen.
Von einem Eifersuchtsdrama war die Rede. Einige meinten erfahren zu haben, dass Heise sich kürzlich von seiner Lebensgefährtin getrennt hatte. Auch seine geschiedene Frau wurde verdächtigt. Eine kleine Minderheit besonders konservativer Beamter gab sich überzeugt, dass islamistische Terroristen für den Mord verantwortlich seien. Gesine Terberg, Heises engste Mitarbeiterin, brachte Ministerialrätin König ins Spiel. Widerspruch blieb aus. Die Ministerialrätin galt als zickig und rücksichtslos. Niemand fühlte sich berufen, sie in Schutz zu nehmen.
Obwohl Bernd Wagner von Haus aus kommunikativ war, stand er heute abseits. Ihm war nicht nach Gesprächen zumute, er sehnte sich nach seinem Bett. Das heute war mehr als ein normaler Kater. Vielleicht hatte der Chef recht und er sollte mehr auf seine Gesundheit achten. Sein Kreislauf spielte in letzter Zeit Jo-Jo und sein Blutdruck führte ein Achterbahndasein, war mal ganz tief, dann wieder zu hoch.
Nicht weit von ihm stand Britta König. Auch sie allein, was bei ihr nicht ungewöhnlich war. Die sonst immer so coole Ministerialrätin wirkte heute derangiert. Die normalerweise akkurat frisierten, blond gesträhnten Haare waren wuschelig, ihr Lippenstift verwischt. Plagte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie sich ständig mit Heise gezofft hatte? Oder steckte gar mehr dahinter? Sein Blick wanderte durch den Saal und blieb an Gesine Terberg hängen. Mit Schrecken bemerkte er, dass sie ihn anstarrte. Ging das etwa wieder los? Er verdrängte die unschönen Erinnerungen.
Der ungekrönte König des Small Talks der Staatskanzlei, Ministerialrat Siegbert Meyer, löste sich aus einer Gruppe und kam auf ihn zu. Bloß das nicht, lass wenigstens diesen Kelch an mir vorübergehen, lieber Gott!, betete der Regierungssprecher und drehte sich demonstrativ in die entgegengesetzte Richtung. Meyer beeindruckte das nicht im Geringsten. Er baute sich vor ihm auf.
„Moin, moin, schrecklich, nicht wahr, die Sache mit unserem Kollegen! Gestern noch putzmunter, heute mausetot, eiskalt ermordet. Ich muss immer daran denken, dass es einen selbst hätte treffen können.“
Wagner nickte gottergeben. Weshalb redete alle Welt von „unserem“ Herrn Heise? Als er noch lebte, war das anders. Die wöchentlichen Kabinettsvorbesprechungen unter Heises Vorsitz wurden als schwere Bürde angesehen. Plötzliches Unwohlsein, dringende Diensttermine außerhalb und unaufschiebbare Arzttermine mussten als Vorwand herhalten, um den Sitzungen fernzubleiben. Heises Gewohnheit, den Mitarbeitern klarzumachen, dass sie Nieten waren, förderte die Fantasie selbst der sonst nicht für Einfallsreichtum bekannten Beamten. Immer neue Ausreden wurden Heises Vorzimmer aufgetischt, um das Fernbleiben zu begründen.
Die nächsten Minuten würde Meyer nicht von seiner Seite weichen, eine Klette war gar nichts gegen den mitteilsamen Kollegen. „Und was halten Sie von dem Mord, Herr Wagner? Als Pressesprecher sind Sie näher am Geschehen als unsereins. Schon gehört, wer der Täter ist?“
Wagner sehnte sich weit weg von Meyer und der Staatskanzlei. Heute war wirklich ein Scheißtag. „Ich weiß auch nicht mehr als alle anderen. Die Polizei wird in Kürze eine Pressekonferenz geben.“
Meyer wäre nicht Meyer, wenn ihn Wagners genervte Stimme beeindruckt hätte. Er hakte nach. „Und der Ministerpräsident, was sagt der? Heise war doch sein Liebling. War das der Grund, weshalb Heise und Sie nicht miteinander konnten?“
Boshafte Augen schauten ihn an. Wagner verspürte das Verlangen, dem Kollegen ein paar bissige Worte an den Kopf zu werfen. Seine übliche Schlagfertigkeit war ihm jedoch vorübergehend abhandengekommen.
Meyer verfiel in einen Flüsterton. „Ganz unter uns, Herr Kollege: Das Arbeitsklima in der Politischen Abteilung ist unter
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