Die Stadt der gefallenen Engel
Tod deiner Seele nichts anhaben kann, aber die Freude, die du dabei empfinden wirst, wird es tun.« Er beugte sich vor und flüsterte: »Ist es nicht so, dass dich Wut und Zorn hierher getrieben haben? Ist es nicht so, dass Hass dich leitet? Ist das nicht der Weg, den Satan vor uns gegangen ist? Der Weg in die Dunkelheit.«
Arias sprang auf. Seine Hand schoss vor und packte den anderen am Jackenaufschlag. Das Gesicht war wutverzerrt, als er zischte: »Du kannst reden, solange du willst, aber ich kenne meinen Weg und deiner endet hier. Wenn du ein Krieger bist, steigst du an der nächsten Haltestelle mit mir aus.«
»Ich will nicht mit dir kämpfen.«
»Du hast keine Wahl.«
»Dann flehe ich dich an. Lass uns in Frieden auseinandergehen. Es gibt wichtigere Dinge als …«
Arias’ Blick war blankes Feuer, seine Züge schienen wie aus Stein gemeißelt. »Dafür ist es zu spät. Kämpfe und stirb ehrenvoll.«
»Und wenn ich mich weigere?«
»Werde ich dich gleich hier vernichten.«
Damian nickte in Richtung der Frau und der Kinder. Der kleine Junge sah noch immer zum Fenster hinaus, aber seine Mutter hatte die Auseinandersetzung bemerkt und blickte ängstlich herüber. Damian lächelte ihr beruhigend zu, aber die Frau hörte nicht auf, ihn und Arias anzustarren.
»Was ist mit ihnen?« Arias sah Damian eindringlich an. »Du weißt, dass ich die Macht besitze, sie vergessen zu lassen.«
Ein müder Ausdruck überzog Damians Gesicht. Er hatte gehofft, den Engel noch umstimmen zu können, aber nun erkannte er, dass es sinnlos war. »Dann soll es so sein.«
Arias lächelte.
Lara rannte die Straße entlang. Sie wusste, dass ihre Großmutter ihr nicht folgte, aber sie wollte Distanz zwischen sich und das Haus ihrer Großeltern bringen. Einen Abstand, der es ihr ermöglichte, wieder frei atmen und klar denken zu können.
Der Tag war genauso trübe wie so viele in letzter Zeit. Tief hängende Wolken verbargen die Sonne und das allumfassende Grau ließ alle Farben blasser erscheinen. Es waren kaum Leute unterwegs. Lediglich eine junge Frau mit Kinderwagen kam ihr entgegen. Lara warf der jungen Mutter einen flüchtigen Blick zu. Etwas an der Frau mit den grellrot geschminkten Lippen kam ihr bekannt vor. Wahrscheinlich wohnte sie in dieser Straße und Lara war ihr in den letzten Tagen schon öfter begegnet, ohne sie bewusst wahrzunehmen.
Doch ihre Gedanken wanderten zu einer anderen Person, als sie den Park erreichte – den Ort, an dem sie scheinbar vor einer kleinen Ewigkeit Damian kennengelernt hatte. Lara verlangsamte ihren Schritt und blieb schließlich stehen. Ihr Herz klopfte wild in der Brust und ihr Schädel pochte im Takt ihres Herzschlags. Noch immer hielt sie das Foto in der Hand. Nun starrte sie es erneut an.
So klein, so unbedeutend. Dennoch barg es die Antworten auf all ihre Fragen, das hatte die Reaktion ihrer Großmutter deutlich gezeigt. Weshalb sonst hatte sie das Bild unbedingt zurückhaben wollen? Wahrscheinlich hätte sie es vernichtet, dachte Lara bitter. Niemand wollte, dass sie die Wahrheit über ihren Vater erfuhr, am wenigsten ihre Großeltern.
Unwillkürlich musste Lara an ihre Mutter denken – und an ihre Theorie, dass das Ganze damals ein abgekartetes Spiel war. Einen Moment überlegte sie, ob sie ihre Mutter anrufen und ihr von dem Foto erzählen sollte. Doch dann entschied sie sich dagegen. Wahrscheinlich kannte ihre Mutter die Aufnahme nicht einmal und würde sich nur unnötigerweise aufregen. Noch wusste Lara gar nichts und ihre Vermutungen beruhten auf dem wirren Geschwätz eines alten Mannes, der vielleicht Ereignisse und Zeiten durcheinanderbrachte.
Letztendlich war es nur ihr Gefühl, der Wahrheit auf der Spur zu sein – aber ihre Gefühle konnten sie täuschen, wie die Erfahrung mit Ben und Damian gezeigt hatte.
Lara ging zu einer Parkbank, wischte mit dem Ärmel ihrer Jacke darüber, um den gröbsten Schmutz zu entfernen, und setzte sich. Den Oberkörper vorgebeugt, sah sie das Foto an, das sie mit beiden Händen festhielt, als könne es beim ersten Windstoß davongetragen werden.
So viele Fragen.
Keine Antworten.
Nur ein unscharfes Bild, das über vierzig Jahre alt war. Die Menschen darauf waren entweder bereits verstorben oder alte Leute. Bis auf ihre Großeltern und den Buchhändler kannte Lara niemanden auf dem Bild.
Einen Moment lang war sie versucht, den Buchladen noch einmal aufzusuchen und mit dem alten Fischer zu reden, aber eine innere Stimme sagte ihr,
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