Die Stadt der Heiligen (German Edition)
hinter ihr verschloss, stellte sie den Korb ab und betrachtete Marysa, die wie erstarrt am Fenster stand und hinauf zum Himmel blickte.
«Wie geht es dir, mein Kind?», fragte Jolánda sanft. Und als Marysa sich zu ihr umdrehte und sie mit merkwürdig zornerfülltem Blick ansah, wusste sie plötzlich, was es gewesen war, das sie in Bruder Christophorus’ Augen gesehen hatte, denn bei ihrer Tochter erkannte sie dasselbe. Es war Verzweiflung.
Oha, dachte sie.
«Ich habe dir etwas zu essen mitgebracht. Und Unterwäsche und eine frische Haube.»
Marysas Gesichtszüge entspannten sich ein wenig. Dankbar umarmte sie ihre Mutter. «Ich halte das hier drinnen nicht mehr aus», sagte sie und spürte, wie erneut Tränen in ihr aufstiegen.
Jolánda drückte sie fest an sich. «Ich weiß, mein Schatz. Glaub mir, wir tun alles, um dich hier herauszuholen. Enno hat Beschwerde beim Stadtrat eingelegt, und Bardolf ist zur Zunft der Schreiner gegangen und hat darum gebeten, dass der Zunftmeister Bürgen zu den Schöffen schickt. Sie sollen schon heute im Rathaus vorsprechen. Ja, sogar Hartwig setzt sich für dich ein.»
Marysa sah ihre Mutter überrascht an. «Hartwig?»
«Er verlangt, dass man Johann Scheiffart aus der Heiltumskammer holt und ihn befragt. Aber die Kanoniker weigern sich. Ihnen ist die Reliquienweisung wichtiger. Also werden wir noch bis nächsten Montag warten müssen. Dann ist die Kirmes vorbei und Scheiffart wieder verfügbar.»
Verzweifelt schlug Marysa die Hände vors Gesicht. «Das sind noch sieben Tage!»
«Ich weiß.» Jolánda war ebenfalls zum Weinen zumute, doch sie riss sich um ihrer Tochter willen zusammen. «Aber bedenke, das gibt uns auch etwas Zeit. Vielleicht klärt sich die Sache bis dahin auf …» Sie löste sich von Marysa und holte den Korb näher. «Setz dich erst einmal und iss etwas Anständiges. Balbina hat sich selbst übertroffen. Schau, sogar ein Schüsselchen Konkavelite hat sie mir mitgegeben.»
Um Marysas Mundwinkel zuckte es. Die Köchin wusste genau, wie sehr Marysa Süßigkeiten liebte. Hungrig stürzte sie sich jedoch zunächst einmal auf das frische Brot, das sie dick mit Schmalz bestrich.
Jolánda sah ihr beim Essen zu, und als sie den Eindruck hatte, dass es Marysa langsam besserging, sagte sie beiläufig: «Ich habe vorhin Bruder Christophorus aus der Acht kommen sehen. War er bei dir?»
Augenblicklich verfinsterte sich Marysas Blick wieder, und ihre Miene erstarrte. Langsam ließ sie das halbgeleerte Schüsselchen mit dem Mandelpudding sinken. «Er … ist …»
«Was?» Neugierig musterte Jolánda ihre Tochter.
«Ein Scheusal!», stieß Marysa hervor.
Jolánda konnte sich das Lachen nicht verkneifen. «Also diesen Eindruck hatte ich bisher nicht.» Sie wurde wieder ernst, als sie Marysas verkniffenen Gesichtsausdruck wahrnahm. «Was hat er dir getan, dass du ihn so verabscheust?»
Marysa stellte das Schälchen beiseite und stand auf. Fahrig suchte sie sich die frische Haube aus dem Korb und wand sie sich um den Kopf. «Er verlangt, dass ich ihm vertraue.»
Jolánda stand ebenfalls auf und half ihrer Tochter, den Schleier zu befestigen. «Ich bin ganz sicher, dass du ihm vertrauen kannst. Er war Aldos Freund.»
Marysa funkelte ihre Mutter erbost an. «Ich kann einem Mann wie ihm nicht vertrauen.»
Jolánda sah sie bedächtig an. «Nein, du willst es nicht. Ist etwas zwischen Euch vorgefallen?»
«Nein.» Marysa verschränkte die Arme vor der Brust, und Jolánda wusste, dass sie nicht mehr aus ihrer Tochter herausbringen würde.
«Gib mir deine schmutzige Unterwäsche mit», wechselte sie deshalb übergangslos das Thema. «Soll ich fragen, ob man dir eine Waschschüssel heraufbringen kann?»
Marysa entspannte sich etwas und nickte. «Das wäre schön. Es ist einfach grässlich, sich nicht waschen zu können.»
Jolánda nahm sie noch einmal in den Arm, dann klopfte sie an die Tür und rief nach dem Wachtmann.
37. Kapitel
D er junge Priester kniete vor dem kleinen Marienaltar, der sich seitlich in der Pfarrkirche St. Follian befand. Er wusste, wie unklug es war, vor Ablauf der zwei Wochen nach Aachen zurückzukehren. Manchmal, in Momenten, da ihn die Angst übermannte, wünschte er sich, er könnte der Stadt sogar für immer fernbleiben. Doch das war unmöglich. Seine Pfründe wartete auf ihn und, was noch wichtiger war, seine Aufgaben. Er hatte Pflichten, die es zu erfüllen galt.
Momentan war jedoch wieder so ein Moment, in dem er sich weit
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