Die Stadt der Heiligen (German Edition)
des Domes zur Vesper zu läuten. Marysa erschrak, denn sie hatte gar nicht mitbekommen, dass es bereits so spät war. Wo steckte Reinold nur?
Während sie die verbliebenen Schreine in die Kisten packte, wies sie Jaromir an, den Handkarren zu holen. Grimold lud die Kisten sorgsam auf und brachte den Karren dann auf Marysas Anweisung hin zurück zum Büchel.
Jaromir klappte das Dach des Verkaufsstandes herunter und begann damit, die aus festem Tuch bestehende Bespannung abzuziehen und zusammenzufalten.
Marysa verstaute den größten Teil der eingenommenen Münzen in einer Geldkatze, die sie in ihrer großen Gürteltasche verstaute. Der Rest, hauptsächlich kleine und schlecht geprägte Münzen, verblieb in der Börse, die sie in den Ärmel ihres Kleides schob. Dabei behielt sie die Menschen und Verkaufsstände ringsum im Auge, in der Hoffnung, Reinold irgendwo zu sehen.
Sie erblickte Bruder Christophorus, der nicht weit von ihr entfernt stand und sie zu beobachten schien, und für einen ärgerlichen kleinen Moment setzte ihr Herzschlag aus. Was tat er hier? Sie wollte auf keinen Fall mit ihm sprechen.
Christophorus spürte geradezu körperlich, wie sich Marysas Stimmung in dem Augenblick veränderte, in dem sich ihre Blicke trafen. Sie erstarrte, und alles Offene und Fröhliche wich aus ihren Gesichtszügen.
Er fluchte innerlich, denn es wäre besser gewesen zu verschwinden, bevor sie ihn bemerkte. Doch nun war es zu spät, und abgesehen davon, dass er nicht vor sich selbst als Feigling dastehen wollte, der sich von den Launen einer Frau beeindrucken ließ, ärgerte es ihn zunehmend, dass es ihm nie gelang, ihr eine freundliche Regung zu entlocken.
Entschlossen setzte er ein, wie er hoffte, gleichmütiges Lächeln auf und ging auf sie zu.
«Guten Tag, Frau Marysa. Wie ich sehe, kümmert Ihr Euch doch um die Geschäfte Eures Gemahls, und erfolgreich dazu, wie mir scheint?»
Marysa ignorierte ihren noch immer holprigen Herzschlag standhaft und nickte ihm äußerlich ruhig zu. «Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig, wenn Meister Reinold es vorzieht, sich den ganzen Tag nicht blicken zu lassen.»
Christophorus hob erstaunt die Brauen, doch sie sagte nichts weiter dazu, sondern half Jaromir, die gefaltete Dachbespannung in einer weiteren Kiste zu verstauen.
Als sie sich aufrichtete, fiel ihr Blick auf die beiden Krapfen, die der Dominikaner noch immer in der Hand hielt.
«Ihr frönt der Völlerei, Bruder Christophorus? Gebt Ihr damit nicht ein schlechtes Vorbild?» Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, knurrte ihr Magen deutlich vernehmbar.
Christophorus lachte. «Nicht, wenn ich christlich mit Euch teile. Hier, nehmt einen Krapfen. Sie schmecken ausgezeichnet.»
Verlegen blickte sie auf das Gebäck, doch da sie tatsächlich sehr hungrig war, nahm sie es und biss hinein.
«Ich vermute, Ihr habt Euch Euren Segen und Ablass heute bereits verschafft?», fragte sie, nachdem sie den letzten Bissen hinuntergeschluckt und ihre klebrigen Finger abgeleckt hatte.
«Nein», antwortete er und machte Jaromir Platz, der die verbliebenen Kisten vor dem Stand aufstapelte. «Das war gar nicht nötig, denn wisst Ihr, ich bin bereits im Besitz eines vollkommenen Aachener Ablasses.»
«Ach?» Verwundert sah sie ihn an. «Ich dachte, Ihr wäret vorher noch nie hier gewesen.»
«Das habe ich niemals behauptet. Vor vielen Jahren war ich schon einmal zu einer Heiltumsweisung in Aachen. Ich war gerade sieben Jahre alt und begleitete meine Eltern. Allerdings muss ich gestehen, dass ich nur noch sehr wenige Erinnerungen an damals habe.»
Marysa unterdrückte ein Schmunzeln. «Kaum jemand vergisst die Zeigung unserer beeindruckenden Reliquien, es sei denn, er verliert aufgrund seines fortgerückten Alters sein Gedächtnis.»
Überrascht sah Christophorus auf. «Sieh an, Ihr habt Humor! Aber ich wehre mich entschieden dagegen, mit achtundzwanzig bereits als Greis bezeichnet zu werden. Wenn ich auch zugebe, dass mein Alter im Vergleich zu Eurem schon etwas vorgerückt erscheint. Immerhin wart Ihr zur Heiltumsweisung 1391 noch nicht geboren.»
«Was mir zumindest ein Zusammentreffen mit Euch erspart hat», erwiderte sie, jedoch ohne unfreundlichen Unterton. «Esst Ihr den Krapfen noch, oder seid Ihr christlich genug, ihn mir zu überlassen?»
Grinsend gab er ihr das Gebäck. «So frönt denn Ihr der Völlerei. Da Ihr es wohl ebenso wenig im Jenseits büßen müsst wie ich, sehe ich darüber hinweg.»
Während sie dankbar auch
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