Die Stadt der Heiligen (German Edition)
verloren. Nie hätte sie gedacht, dass des Nachts so viele Menschen auf dem Büchel herumliefen.
Sie rieb sich über die Arme und schloss dann die Fensterläden. Nun doch langsam müde, ging sie zurück in die Schlafkammer und rollte sich unter ihrer Decke zusammen.
Was, wenn Reinold wirklich etwas Schreckliches zugestoßen war? Warum sonst kam er nicht zurück? Sie schloss die Augen und wünschte sich, jemanden bei sich zu haben, der ihr die Angst nahm.
Irgendwann fiel sie in einen unruhigen Schlaf.
***
«Wacht auf, Herrin! Kommt schnell, da ist jemand an der Haustür!», rief Imela aufgeregt vor Marysas Schlafkammer.
Marysa fuhr erschrocken hoch. Es war noch vor Morgengrauen! Wer würde um diese Zeit Einlass begehren? Ihr Herz pochte heftig gegen ihre Rippen. Rasch schlüpfte sie in ihr Überkleid und stopfte ihr Haar unter einen Schleier, den sie der Einfachheit halber wie ein Kopftuch unter dem Kinn zusammenband. Dann rannte sie auf bloßen Füßen die Stiege hinab.
«Warum hast du denn noch nicht geöffnet?», fragte sie Grimold, der mit Jaromir und Balbina vor dem Durchgang zur Werkstatt stand.
Jemand klopfte laut an die Haustür, wohl zum wiederholten Male.
Marysa eilte an ihrem Gesinde vorbei, schob den Riegel zurück und machte sich auf das Schlimmste gefasst.
«Na endlich!»
Vor ihr stand einer der städtischen Büttel. Marysas Hände wurden eiskalt.
«Ihr habt aber einen festen Schlaf, gute Frau!» Der Büttel machte ein verlegenes Gesicht. «Verzeiht, wenn ich Euch so früh störe, aber Euer Gemahl …»
Marysa fühlte, wie alles Blut aus ihrem Gesicht wich. «Was ist mit ihm?»
«Wir haben ihn, äh, gefunden.» Der rundliche Mann war bereits jenseits der vierzig und schon lange im Dienste der Stadt. Marysa kannte ihn seit Jahren und wunderte sich über sein zögerliches Verhalten.
Er druckste herum und trat schließlich einen Schritt zur Seite. Damit machte er die Sicht auf zwei Wachtmänner frei, die zwischen sich eine hölzerne Trage hielten. Daneben stand Vater Ignatius.
«O mein Gott!» Marysa bekreuzigte sich und rannte zu der Trage. «Ist er …?»
«Betrunken, liebe Frau», sagte der junge Priester in ruhigem, jedoch ähnlich verlegenem Tonfall. «Er hat das Bewusstsein verloren. Die Wächter fanden ihn im Rinnstein vor … na ja … vor dem Dirnenhaus beim Königstor.»
Marysa stieß erleichtert die Luft aus und legte Reinold ihre Hand auf die Stirn. Er rührte sich nicht, doch sie roch, dass er Unmengen Wein getrunken haben musste.
«Ich fürchte, Frau Marysa, er war dort Gast.» Vater Ignatius blickte betreten zu Boden. «Er … also die Wächter fanden ihn dort, und weil er nicht zu sich kommen wollte, haben sie mich geholt. Aber ich glaube nicht, dass er in Gefahr ist. Wenn Ihr ihn ins Bett legt und seinen Rausch ausschlafen lasst … Nun, dann sollte es ihm bald wieder bessergehen.» Der Priester strich sich beschämt durch die Haare. «Es tut mir sehr leid. Ich weiß nicht, wie ein guter Mann sich in solch ein Haus verirren kann … Schickt ihn zu mir, wenn er wieder bei sich ist.»
Marysa sah ihn irritiert an. Glaubte er wirklich, Reinold würde ihn wegen seiner nächtlichen Eskapaden zur Beichte aufsuchen? Die Wachtmänner feixten, sagten jedoch kein Wort.
«Tragt ihn hinauf in die Schlafkammer», sagte sie und machte den Wächtern mit der Trage den Weg frei. Grimold kam herbei und wies ihnen den Weg nach oben.
Marysa war froh, dass die Nachbarn wegen der frühen Stunde nichts von der Sache mitbekommen hatten. Sie dankte dem Büttel noch einmal und drückte den beiden Wächtern jeweils eine Münze in die Hand, nachdem diese wieder heruntergekommen waren.
«Gehabt Euch wohl.» Die Träger verabschiedeten sich und zogen von dannen. Vater Ignatius jedoch blieb noch und bat Marysa, ihn kurz einzulassen. Sie wunderte sich zwar darüber, schickte jedoch Balbina, ihm einen Becher Most zu holen.
Vater Ignatius war noch nicht sehr lange Gemeindepfarrer, aber er zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass er kurze Predigten hielt, milde Bußen aufgab und sich, entgegen der Gewohnheit seines betagten Vorgängers, ungern in die Angelegenheiten seiner Schäfchen einmischte.
Nun jedoch schien er es für angebracht zu halten. «Es tut mir sehr leid, Frau Marysa», wiederholte er und blickte sich angelegentlich in der Werkstatt um. «Es ist eine große Schande, wenn ein Mann ein … äh … übel beleumdetes Haus aufsucht, wenn er zu Hause eine junge hübsche Ehefrau hat.»
Marysa
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