Die Stadt der Singenden Flamme - Die gesammelten Erzaehlungen - Band 1
unbestimmte Gefühl, von anderen, unsichtbaren Kreaturen beobachtet zu werden, und eine scheue Furcht erfasste uns, eine vage Angst vor dem monströsen Urwald. Wir sprachen jetzt nicht mehr laut, noch oft, sondern wechselten nur noch vereinzelt geflüsterte Worte miteinander.
Unterwegs war es uns gelungen, neben anderem eine große lederne Flasche mit Palmwein zu erbeuten. Ein paar Mundvoll der beißend scharfen Flüssigkeit hatten bereits mehr als einmal geholfen, die Mühsal unserer Reise zu lindern, und sie kam uns jetzt sehr zustatten. Jeder von uns beiden nahm einen tiefen Schluck, und mit einem Mal erschien der Urwald weniger furchterweckend. Nun fragten wir uns, weshalb wir der Stille und der Düsternis, den lauernden Fledermäusen und der brütenden Gewaltigkeit unserer Umgebung gestattet hatten, auch nur für kurze Zeit unsere Laune zu trüben – und ich glaube, nach einem zweiten Schluck begannen wir sogar zu singen.
Als nach Sonnenuntergang die Dämmerung aufzog und der Mond hoch am Firmament leuchtete, hatte das Abenteuerfieber uns so sehr gepackt, das wir beschlossen, uns zu beeilen und Commoriom noch in derselben Nacht zu erreichen. Unser Abendbrot bestand aus Speisen, die wir dem Landvolk entwendet hatten, und die lederne Flasche ging mehrmals zwischen uns hin und her. Sattsam gestärkt und von Mut und hehrem Abenteuergeist erfüllt, setzten wir unseren Weg fort.
Das Ziel lag jetzt nicht mehr fern. Noch während wir mit einer Begeisterung, die uns die lange Reise vergessen ließ, darüber parlierten, welche Kostbarkeiten wir aus all den fantastischen Schätzen von Commoriom zuerst als Beute wählen würden, erspähten wir im Mondschein den Schimmer von Marmorkuppeln über den Baumwipfeln, und kurz darauf zwischen den Ästen und Stämmen die fahlen Pfeiler schattendunkler Säulengänge. Noch ein paar Schritte, und wir wandelten über gepflasterte Straßen, die vom Hauptverkehrsweg abzweigten, der uns hergeführt hatte, hinein in die großen, üppigen Wälder zu beiden Seiten, wo die Wedel mächtiger Palmfarne die Dächer uralter Häuser überragten.
Wir hielten inne, und abermals ließ die Stille unvordenklicher Verlassenheit unsere Lippen verstummen. Denn die Häuser waren weiß und verschwiegen wie Grabkammern, und die tiefen Schatten, die alles einhüllten, waren kalt und finster und geheimnisvoll wie der ureigene Schatten des Todes. Es erweckte den Eindruck, als schiene die Sonne schon seit Ewigkeiten nicht mehr auf diesen Ort – als hätte nichts Wärmeres denn die geisterhaften Strahlen des leichenfahlen Mondes den Marmor und den Granit seit jener Massenflucht berührt, welche die Weissagung der Weißen Seherin von Polarion ausgelöst hatte.
»Ich wünschte, wir hätten Tageslicht«, murmelte Tirouv Ompallios. Seine gedämpft hervorgebrachten Laute klangen sonderbar zischend, tönten unnatürlich laut in der Todesstille.
Ich ermahnte ihn: »Tirouv Ompallios, ich vertraue darauf, dass du nicht abergläubisch wirst. Ungern möchte ich sehen, dass du den kindischen Einbildungen des dummen Bauernvolks erliegst. Doch egal – wir wollen uns noch einen Trunk genehmigen.«
Wir erleichterten die lederne Flasche beträchtlich, als wir uns an ihrem Inhalt labten, und wurden dadurch wunderbar frohgemut – so sehr sogar, dass wir umgehend darangingen, eine linker Hand abzweigende Allee zu erkunden, die, obwohl sie mit mathematischer Geradlinigkeit angelegt worden war, bereits in kurzer Entfernung zwischen den Palmblättern verschwand.
Hier entdeckten wir etwas abseits der übrigen Gebäude auf einer Art von Lichtung, die der Urwald noch nicht völlig vereinnahmt hatte, einen kleinen Tempel von altertümlicher Architektur. Er erweckte den Eindruck, weitaus älter als alle benachbarten Gebäude zu sein. Auch in seinem Baumaterial unterschied er sich von diesen, denn er bestand aus einem dunklen Basaltgestein, das dicht mit Flechten überwuchert war, die kaum weniger alt erschienen. Der Tempel hatte einen quadratischen Grundriss und besaß weder Kuppeln noch Türme, auch keine Säulenfront, und nur ein einziges Fenster weit oberhalb des Bodenniveaus. Derartige Tempel sind heutzutage selten in Hyperborea; doch wir erkannten in ihm ein Heiligtum des Tsathoggua, eines der Älteren Götter, der von Menschen nicht mehr verehrt wird. Es heißt jedoch, dass vor seinen aschfarbenen Altären die wilden, verborgen lebenden Tiere des Urwalds – der Affe, das Riesenfaultier, der fangzahnbewehrte Tiger – dabei
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