Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
streiche über die krummen Nähte, spüre die kleinen Stiche.
Kaputtes kann wieder heil gemacht werden. Vielleicht wird es nicht wieder so wie vorher, möglicherweise wird es dieses Mal aber stärker.
»Am Flussufer hast du mich doch gefragt, was ich tun würde, wenn ich nur noch ein paarTage zu leben hätte«, sage ich.
Meine Schwester nickt und gibt Kräuter in das heißeWasser, ein erdiger Geruch durchzieht den ganzen Raum.
»Ich habe beschlossen, dass ich leben würde«, sage ich. »Ich habe beschlossen, dass ich es leid bin, Angst zu haben und darauf zu warten, dass andere sich darüber klarwerden, was sie wollen – ich werde mich nach dem richten, was ich will.« Ich ziehe einen Haufen Stoff zu mir heran. »Und im Moment will ich von dieser verdammten Insel runter.«
Meine Schwester lacht und bringt mir einen BecherTee. Dann macht sie es sich wieder auf ihrem Sessel bequem. »Ich wollte etwas bauen.« Sie schaut verträumt. »Vor kurzem habe ich mir so ein Dorf vorgestellt …«, sagt sie zögernd, so als würde sie nur darauf warten, dass ich mich über sie lustig mache . A ber ich sitze ganz still, atme kaum und will mehr hören.
Nach einerWeile spricht sie weiter. »Da würden überall schöne Häuser sein, alle über Brücken miteinander verbunden – und alles über der Erde. Das Dorf würdeTeil der Natur sein, sie nicht verändern, sondern mit ihr verschmelzen.« Sie lächelt. »Es wäre sicher dort. Wir müssten uns nie wieder Sorgen machen.«
Es ist still im Raum. Wir hören, wie Elias im Flur die Tür öffnet, Metall klappert, als er das Material für seine Steuerung hereinschleppt. Meine Schwester und ich schauen uns an,Träume von Möglichkeiten umschweben uns.
Sie zieht die Laterne dichter an ihren Schoß heran und nimmt die Arbeit wieder auf, konzentriert sich auf ihre Hände, sticht die Nadel in den Stoff … rein, raus, rein, raus . A lles wirkt so zufrieden, so richtig.
»Ich glaube, am anderen Ufer sind sie soweit«, sagt Catcher. In der Dunkelheit vor dem Sonnenaufgang stehen wir auf dem Dach, die klare Luft ist eisig. Catcher ist vor einerWeile aus der Dunklen Stadt zurückgekommen, nachdem er den Überlebenden geholfen hat, das nötige Material zusammenzustellen. Er umklammert meine Hand, während Elias in einem grob zusammengezimmerten Kasten herumrumort, den er aus altenWandverkleidungen gebaut hat. Er ist oben offen, ein kleines Metallbecken für das Feuer steht in der Mitte, und Beutel mit fettgetränktem Holz sind an den Seiten festgezurrt.
Das Ganze ist winzig, wir müssen uns hineinquetschen, aber die Konstruktion wirkt stabil genug. Daneben liegt ein einfacher, mit einer Kurbel verbundener Propeller, der zum Steuern auf jede Seite des Kastens verschoben werden kann.
Meine Schwester huscht herum, befestigt geflochtene, mit Draht verstärkte Seile am Kasten und sorgt dafür, dass sie gut am Stoff des Ballons halten, der zusammengefaltet am Rand des Daches liegt.
Sobald wir das Feuer angezündet und den Rauch in den Ballon geleitet haben, gibt es kein Zurück mehr.Wenn die R ekruter uns entdecken, bevor er weit genug aufgeblasen ist, sind wir in Schwierigkeiten.
Ich stehe mit Catcher an der Brüstung und beobachte den Inneren Bereich. Wir müssen sichergehen, dass niemand uns sieht. Ich rücke in Catchers Wärme, während er sich um die letzten Einzelheiten kümmert.
»Die Überlebenden, die ich gefunden habe, konnten alles Nötige ziemlich schnell beschaffen. Sie werden gleich beiTagesanbruch nach dem Signal Ausschau halten . A uf der anderen Seite des Inneren Bereichs hat auch noch eine Gruppe Soulers einen Ballon gebaut. Für sie wird es schwerer werden, ich habe Material an die Küste geschmuggelt, aber die R ekruter könnten es gefunden und mitgenommen haben.«
Ich trete von einem Fuß auf den anderen, um das Blut in Bewegung zu halten, Angst lodert im Bauch. »Wird es funktionieren?«, frage ich wohl zum hundertsten Mal.
Catcher drückt meine Hand, antwortet aber nicht, denn das weiß wirklich keiner. »Habe ich dir von der Nacht erzählt, in der ich in Vista auf die Achterbahn geklettert bin?« Er will mich ablenken von den hundert Arten des Scheiterns, die ich mir ausmale.
Mit gerunzelter Stirn schaue ich ihn an, versuche mich zu erinnern und schüttele den Kopf.
»Das war nach meiner Ansteckung. Ich war allein und habe draußen beimVergnügungspark gelebt. Mein Leben lang hatte ich Höhenangst gehabt, und da saß ich und starrte die Achterbahn an, und mir
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