Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
Wind schlägt um und schiebt uns über den Fluss und die Außenbezirke der Dunklen Stadt. Hinter uns strömen immer mehr R ekruter auf den Schutzwall des Inneren Bereichs, aber sie werden von einigen schäbig-grauen Ballons abgelenkt, die auf der Südseite der Insel aufsteigen: die Soulers.
Ich jubele, Elias und meine Schwester küssen und umarmen sich. Wir haben es geschafft !, möchte ich derWelt zuschreien. Wir sind frei!
Aber so leicht lassen die R ekruter uns nicht davonkommen. Sie klettern auf denWall und feuern weiterhin ihre Armbrüste auf uns ab. Ich halte die Luft an, beobachte, wie die Bolzen ihr Ziel entweder verfehlen oder nicht weit genug fliegen. Mit jeder Sekunde entfernen wir uns mehr von ihnen, mit jedem Herzschlag schweben wir ein Stück weiter außerhalb ihrer R eichweite.
Die auf der Südseite der Insel aufsteigenden Ballons haben weniger Glück. Ein flammender Pfeil zerreißt den Stoff des einen, Feuer rast die fettgetränkten Nähte entlang, und der Stoff zerfällt beinahe augenblicklich zu Asche.
Ich wende den Blick ab, jedoch nicht schnell genug, um dem Anblick der fallenden Körper zu entgehen, die unten auf den gefrorenen Fluss aufschlagen.
Und dann höre ich ein Geräusch, bei dem mir das Blut in den Adern gefriert – also ob Stoff reißt, Nähte auseinandergehen. Ich schaue auf und sehe ein kleines Stück Stoff im Wind flattern. Es dauert ein paar Sekunden, bis Luft entwichen ist, aber dann fallen wir plötzlich sehr schnell.Vor Schreck schreie ich auf und greife nach meiner Schwester.
Ich will mehr Brennstoff aufs Feuer geben, damit sich der Ballon wieder füllt, aber meine Finger tasten unsicher herum, während der Ballon schwankt. Heiße Luft strömt in die Hülle, dennoch sinken wir immer weiter. Der Schweiß tropft uns von den Gesichtern, jeder Zentimeter Haut glänzt, weil wir so nah an den Flammen sind.
Die Leichtigkeit, die ich eben noch gespürt habe, verfestigt sich zu etwas Undurchdringlichem, Panik macht sich bemerkbar. Ich verdränge sie, ich muss mich konzentrieren.
»Ballast«, rufe ich. »Wir müssen alles abwerfen, was wir können.«
Meine Schwester greift nach den Beuteln zu ihren Füßen, Vorräte für die bevorstehende R eise, und wirft sie über Bord. Unser Fall wird abgebremst, aber wir steigen immer noch nicht wieder auf. Der Wind bestimmt nun unseren Kurs und schiebt uns in die falsche Richtung – auf das Ufer der Dunklen Stadt zu.
Elias reißt am Propeller und versucht uns von den R uinen wegzulenken, doch der Ballon ist zu schwer, und er bekommt ihn nicht unter Kontrolle. Vielleicht schaffen wir es nicht mal über die ersten Häuser. »Vielleicht können wir einfach landen und die Naht reparieren«, sagt meine Schwester. Sie zeigt auf ein langgestrecktes Dach vor uns. Ich schaue mir die Hülle an.
»Wir werden niemals genug Brennstoff auftreiben, um den Ballon wieder zu füllen«, rufe ich und schaufele mehr Holz aufs Feuer.
Unter uns in der Ferne brüllen die R ekruter. Ich schaue mich um und sehe, wie sie in die Seilbahn klettern, die sich genau unter uns langsam über den Fluss bewegt . A ber am anderen Ufer wimmelt es immer noch von Ungeweihten: Es ist Selbstmord, uns zu verfolgen.
»Seht mal.« Ich zeige nach unten. Elias ruckt am Propeller, er will uns weglenken von den höchsten Gebäuden. Die Hitze bläht den Ballon, Rauch quillt aus dem Riss.
Meine Schwester hievt die letztenVorräte über Bord, dann steht sie mit einem Buch in jeder Hand da und starrt auf die Umschläge. Es geht mir nahe, dass sie bereit ist, Sachen wegzuwerfen, die ihr viel bedeuten.
Sie schaut zu mir, wie ich mich bemühe, die Hülle mit soviel heißer Luft wie möglich zu füllen, und zu Elias, der versucht uns zu lenken, aber das Gewicht ist zu groß.
Wir werden über den Rand der Stadt geweht, so nah an den Häusern vorbei, dass wir sie beinahe berühren könnten. Sie wirft die Bücher ab, beobachtet, wie sie auf das Dach unter uns fallen. Seiten flattern wie gebrochene Flügel.
Doch es reicht immer noch nicht. Wir steigen nicht auf.
In diesem Augenblick werde ich in eine andere Zeit zurückgerissen. Ich stehe wieder auf dem Pfad und schaue Abigail an, die Elias und mich weinend anfleht, sie nicht zurückzulassen. Sie hat Angst, fühlt sich allein und blutet. Ich bin wieder das kleine Mädchen von damals, das entscheiden muss, was zu tun ist.
Nur dieses Mal kann ich nicht zwischen den beiden wählen. Ich muss es auch nicht.
»Ich liebe euch«, sage ich. Sie
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