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Die Stadt der verkauften Traeume

Die Stadt der verkauften Traeume

Titel: Die Stadt der verkauften Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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Und falls er seine Pflichten erfüllte und die Aufgaben, die ihm der Graf und seine Gäste zugedacht hatten, zu deren Zufriedenheit erledigte, dann, eines Tages vielleicht … vielleicht …
    Erst später, als er schon fast vom Schlaf übermannt wurde, tauchte ein anderes Bild vor seinem geistigen Auge auf. Ihm fiel Mr Laudate wieder ein. Wenn er nicht so aufgeregt gewesen wäre, so berauscht von seiner vielversprechenden Zukunft, hätte er sich vielleicht darüber gewundert, dass ihn der rothaarige Mann so eigenartig angesehen hatte. Beinahe mitleidig.

 
KAPITEL 6
     
Die Geigenspielerin
     
    Als Lily die Augen aufschlug, erstreckte sich über ihr der Nachthimmel. Sie blieb einen Moment einfach liegen und betrachtete die Sterne, die sich in all ihrer Pracht dort oben ausbreiteten. Dann drängte sich, wie üblich, die Wirklichkeit in ihre Gedanken. Ihre Schürze und ihr Mantel waren verdreckt, ihre Füße noch ganz wund vom langen Rennen über das Kopfsteinpflaster. Wahrscheinlich hatte sie eine ganze Weile geschlafen, denn ihr Haar lag quer über ihrem Gesicht. Außerdem war ihr so unendlich kalt. Ihr Atem entwich in kleinen Wölkchen aus ihrem Mund.
    Zitternd kam sie auf die Füße. Sofort befiel sie eine Traurigkeit, die sie wie ein Faustschlag traf. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie machte sie wieder zu und holte mehrere Male tief und zitternd Luft.
    »Das ist nur eine Nebenwirkung, hat was mit dieser Maschine zu tun …«, flüsterte sie vor sich hin und kämpfte gegen das Verlangen an, vor Kummer einfach loszuweinen. Dann verscheuchte sie die Stimmung energisch, wie jedes Mal, wenn es ihr so erging.
    »Keine Zeit für so etwas«, zischte sie und ballte die Fäuste. Es war nie genug Zeit. Das machte ja alles so schwer. Aber seit ihrem ersten Abend bei dem Buchbinder hatte sie nicht mehr geweint, und auch jetzt würde sie nicht damit anfangen.
    Wie immer legte sich der Schmerz nach und nach. Lily strich sich ein letztes Mal über das Kleid, blinzelte noch einmal und sah sich dann um.
    Sie hatte sich zum Zusammenbrechen nicht das schlimmste Viertel der Stadt ausgesucht. Sie war weit vom Schütze-Bezirk und seinen verschlungenen Gassen entfernt. Hier ragten hohe und sehr alte Häuser in den frostigen Nachthimmel. Sie hatte keine Ahnung, wie weit sie gerannt war, wusste auch nicht, wie spät es sein mochte. Aber eigentlich war es die Stille, die sie am meisten verwunderte. Kein Laut störte die Nacht. Lily atmete tief ein. Einen Moment lang flackerte so etwas wie Glück in ihren Gedanken auf, aber als das Gefühl wieder abgeflaut war, stellte sich ein anderes, natürlicheres Gefühl ein. Hunger.
    Lily ließ den Blick schweifen und entdeckte ein Stückchen Brot, das im Rinnstein lag. Ohne nachzudenken hob sie es auf; und gerade, als sie es sich in den Mund schieben wollte, hielt sie inne, denn sie spürte, dass es sich in ihrer Hand bewegte. Als sie es vor sich hielt, sah sie, dass lauter kleine Würmer darin lebten. Obwohl es ihr kalt den Rücken hinunterlief, überlegte sie, ob sie es nicht doch essen sollte. Allem Anschein nach war ihr Ekel bereits aus ihr heraus gewesen, als die Maschine den Rückwärtsgang eingelegt hatte, und vielleicht war das gar nicht so schlimm, wie sie gedacht hatte. Hastig warf sie das Brot wieder auf die Straße und versuchte, an etwas anderes zu denken.
    Kurz darauf bedauerte sie ihren Entschluss. Ihre Schritte schienen nachzuhalten und die Dunkelheit zu stören. In den tiefen Schatten kroch und krabbelte etwas herum. In jeder Ecke glaubte sie Diebe lauern zu sehen, Diebe, die sich als umso gefährlicher erweisen würden, wenn sie erkannten, dass sie nichts bei sich trug, das zu stehlen sich lohnte. Die Eintreiber konnte sie nicht rufen, schließlich hatte sie selbst durch ihr Weglaufen einen Vertrag gebrochen. Wenn sie jetzt von ihnen aufgegriffen würde, bedeutete das Gefängnis, mindestens. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, dass der Doktor sie nicht als vermisst meldete, bevor sie zu ihm zurückfand. Sie begann zu rennen, aber die Schatten schienen ihr etwas zuzuflüstern. Ausschuss … Schuldnerin … Schuldnerin …
    Dann hörte sie etwas, ganz schwach. Das Geräusch war so leise, dass Lily nicht genau wusste, ob sie es sich eingebildet hatte; es hing wie ein Geruch in der Nachtluft, den der Wind mit sich führte. Musik.
    Neugierig folgte Lily dem Klang.
    Natürlich hatte sie schon einmal Musik gehört. Sie hatte im Waisenhaus bei den langweiligen Liedern, die Agora lobten

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