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Die Stadt der Wahrheit

Die Stadt der Wahrheit

Titel: Die Stadt der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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fliege!‹«
     
    Ich mußte fast ein dutzendmal auf die Bremse meines Adäquats treten, während ich den südlichen Hang des Prosaischen Berges hinunterfuhr, in Richtung des saftig grünen Grases im Tal. Baracke an Baracke, Hütte an Hütte erstreckte sich das Lager Weg-mit-den-Kindern entlang einer kiefernbewachsenen Hügelkette zwischen dem schnell fließenden Wischiwaschi und einem still daliegenden Stausee. Zum erstenmal kam mir der Gedanke, daß Toby gar nichts von der Idee halten könnte, das Lager zwei Tage früher als vorgesehen zu verlassen. Mit seiner beängstigenden Vielfalt an leichtsinnigem Treiben, seinen endlosen Vergnügungen und Ablenkungen, war Weg-mit-den-Kindern womöglich der Ort, an dem sich ein Siebenjähriger leicht vorstellen konnte, für immer zu leben.
    Während ich den Wagen hinter das Verwaltungsgebäude steuerte, marschierte eine Gruppe von vorpubertären Kindern in gelben Weg-mit-den-Kindern-T-Shirts vorbei; sie umklammerten Angelruten. Ich betrachtete forschend ihre Gesichter. Kein Toby. Bruchstücke der bissigen Worte des Gruppenführers kamen mir in den Sinn, etwa mit dem Inhalt, daß der saure Regen alles Leben im Verseuchten See ohnehin zerstörte, so daß es gleichgültig war, wieviel sie fingen, da das Schicksal der Fische ohnehin besiegelt sei.
    Ich betrat das Gebäude, eine schnell hingehauene Anhäufung von Teerpappe und Zedernschindeln. Ein Mann mit graumelierten Haaren und einem Dreitagebart saß hinter dem Schreibtisch und las die August-Nummer von Gegenschlag.
    »Ich bin Toby Sperrys Vater«, sagte ich. »Und Sie sind…?«
    »Ralph Kitto.« Der Geschäftsführer des Lagers musterte mich mißtrauisch. »Sehen Sie, Mr. Sperry, es ist keine Frage, daß wir uns ziemlich verantwortungslos verhalten haben, indem wir diese Rattenfalle frei herumstehen ließen, wie es geschehen ist, aber ich glaube nicht, daß Sie uns deswegen juristisch belangen können.«
    »Ich habe nicht die Absicht, Sie zu verklagen«, antwortete ich und genoß das Schauspiel des Aufleuchtens von Freude und Erleichterung in seinem Gesicht. Er kam nicht auf den Gedanken, daß ich lügen könnte.
    »Wird Toby es überstehen? Ich fühle mich in dieser Angelegenheit bis zu einem gewissen Grad schuldig. Nicht so schlimm, daß ich damit nicht umgehen könnte, aber…«
    »Ich bin gekommen, um ihn nach Hause zu holen«, sagte ich. »Er wird morgen ins Krankenhaus kommen.«
    »Das Leben ist hart, nicht wahr?« Ralph Kitto fächerte sich mit dem Gegenschlag Luft zu. »Nehmen Sie zum Beispiel mich. Ich wünsche mir dringend, einen besseren Wirkungskreis zu finden.«
    »Ich kann mir vorstellen, daß die Kinder Sie verrückt machen – im übertragenen Sinn verrückt.«
    »Wodka hilft etwas. Ich betrinke mich häufig.«
    Kitto sah auf dem Einteilungsplan nach und erklärte mir, daß Toby wahrscheinlich noch auf dem Bogenschießübungsfeld war, einen Kilometer südlich den Wischiwaschi hinunter. Ich beglich die noch offene Rechnung für die Privatstunden meines Sohnes, dankte dem Leiter für seine Bereitschaft, sich für eine so undankbare Arbeit zu opfern, und machte mich entlang des Flusses auf den Weg.
    Als ich bei dem Übungsfeld ankam, hatte mein Sohn soeben den Mittelpunkt der Zielscheibe um weniger als einen Zentimeter verfehlt.
    »Guter Schuß, Toby, alter Kumpel!«
    Er behielt seine Bogenschützenhaltung bei, nicht nur durch mein Auftauchen wie gelähmt, sondern auch durch die Art meiner Begrüßung. »Dad, was machst du denn hier?«
    Ich hatte ihn seit einem Monat nicht mehr gesehen. Er erschien mir größer, dünner, von dunklerer Hautfarbe – älter –, wie er so dastand in seinem dreckigen T-Shirt und den Bluejeans, die er im letzten Frühjahr zu Shorts abgeschnitten hatte.
    »Ich bin gekommen, um dich zu holen«, erklärte ich und ging so dicht wie möglich an ihn heran, ohne offensichtlich werden zu lassen, daß ich Krankheitssymptome bei ihm suchte. Sein Haar war dicht, dunkel und gesund aussehend wie immer. Seine Augen funkelten, sein Knochenbau wirkte stabil, seine gebräunte Haut zeigte keine Anzeichen von Blau.
    »Nein, ich komme am Sonntag mit dem Bus.« Er legte einen Pfeil an. »Mom holt mich am Bahnhof ab.«
    »Der Plan ist geändert worden. Sie mußte verreisen – es bahnt sich eine große UFO-Story in der Hegelschen Wüste an.« Ich empfand eine kleine, aber eindeutige Freude, den Geschmack der Wahrheit, der sich in meinem Mund verwandelte. »Wir sollten jetzt deine Sachen zusammenpacken. Wo

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