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Die Stadt der Wahrheit

Die Stadt der Wahrheit

Titel: Die Stadt der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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von deinem kranken Kind gehört«, sagte Lucky. »Das geht einem echt zu Herzen. Tragisch. Glaub mir, Sperry, ich werde bis zuletzt zu dir halten.«
     
    Damit lag es also bei uns, uns dem Lügen hinzugeben, in die Gefilde des Betrugs hinabzusteigen, uns kopfüber, mit dem Gehirn zuerst, in die satirevianische Realität zu stürzen.
    Bei Einbruch der Morgendämmerung lud Lucky uns in seinen Kleintransporter und fuhr mit uns an einen Ort, wo Geld auf den Bäumen wuchs; ein pekunärer Obstgarten von solchen Ausmaßen, daß daraus die Zinsen auf die nationale Verschuldung von Veritas hätten gezahlt werden können. Wir verbrachten einen schweißtreibenden, zermürbenden Tag unter den himmlischen Lampen und ernteten körbeweise Fünfdollarnoten.
    Am Dienstagmorgen boten die Wetteringenieure ein furchterregendes Unwetter, bei dem ein Gestöber geschmolzenen Schnees nach dem anderen ganz Satirev vollständig lahmlegte und Lucky veranlaßte, breitschippige Schaufeln an uns zu verteilen. »Räumt das Zeug weg«, befahl er. »Auf allen Schnell- und sonstigen Straßen, Alleen, Wegen, Bürgersteigen und Anlegestegen.« Und wir gehorchten; unsere Haut warf Blasen vor Verbrennungen zweiten Grades, während wir Haufen um Haufen von dampfendem Niederschlag zum Jordan trugen und ihn über die Uferböschung warfen. Lucky rieb uns die Stirnen mit Handtüchern ab, die er in das eisige Wasser getaucht hatte, löschte unseren Durst mit Limonade und verschaffte unseren Rücken mit der blasigen Haut Linderung durch Eukalyptusöl – aber er trieb uns den ganzen Tag über zur Arbeit an.
    Mittwoch: Ein langweiliger Morgen, an dem wir sechsbeinigen Pferden Hufe verpaßten, ein ermüdender Nachmittag, an dem wir Satirevs zahllose Steingärten verschönerten. Meine Kameraden und ich fanden, daß diese Geschöpfe für Steine außerordentlich geschwätzig und von einzigartigem Selbstmitleid erfüllt waren. Die Steine beklagten ihren Mangel an Mobilität und Ansehen. Sie behaupteten, es sei eine Strafe, ein Stein zu sein. Wenn man sie schneiden würde, so behaupteten sie, dann würden sie bluten.
    Weitere Lügen, Donnerstaglügen – unser gestrenger Aufseher belud seinen Lieferwagen mit Dosen voller Sprühfarbe und hetzte uns kreuz und quer durch Satirev; bei jeder öffentlichen Parkanlage blieb er stehen und befahl uns, das Gras purpurn, die Rosen blau und die Veilchen hellrot zu spritzen, eine Aufgabe, durch die meine Mitlehrlinge und ich am Schluß so gesprenkelt waren, daß wir aussahen wie eine Mischung aus allen Jackson-Pollok-Werken, die ich jemals kritisiert hatte. Als ich in dieser Nacht im Paradies auf meinem Feldbett lag, schwirrte mein gepeinigtes Gehirn vor Sinnestäuschungen – lavendelfarbener Kohl und karmesinrote Kartoffeln, indigoblaue Dschungel und chartreusebraune Eisberge, viereckige Baseballs, klapperdürre Walfische, große Zwerge und Schlangen mit langen, blassen zusätzlichen Beinen.
    Weitere Lügen – Lügen, Lügen, Lügen. Am Freitag gab Lucky uns Jagdgewehre mit 22.er Kaliber, unterwies uns im Umgang damit und ließ uns unter Ausnutzung unserer veritasianischen Erziehung schwören, daß wir sie nicht gebrauchen würden, um zu fliehen. »Bevor der Tag sich neigt, muß jeder von euch ein fliegendes Schwein erlegt haben. Laßt euch nicht von ihrer lachhaften Anatomie täuschen – sie sind schlauer, als sie aussehen.« Also fand ich mich kauernd hinter einem Wald von neunschwänzigen Peitschen am Ufer des Jordan wieder, meine 22.er auf den Knien balancierend, während meine Gedanken um das rationale Manifest hinter meiner Dekonditionierung kreisten. Eine schwarze, knollige Form schwebte über den Fluß, wie der Schatten, den vielleicht eine gigantische Pferdebremse werfen würde, und ich erinnerte mich an die gründliche Lektüre, der ich Alice im Wunderland vor der Kritik unterzogen hatte. »Die Zeit ist gekommen«, sagte das Walroß, »um über viele Dinge zu reden.« Ich griff nach dem Gewehr, legte an und zielte; die Form flog entlang des Äquators meines Teleskop-Ausschnitts in östliche Richtung auf die Längsachse zu. »Von Schuhen – und Schiffen – und Siegelwachs – von Kohl und Königen.« Ich feuerte. »Und warum das Meer kochendheiß ist.« Das verdutzte Tier fiel quiekend herab. »Und ob Schweine Flügel haben.« Meine blutende Beute schlug aufs Wasser auf.
    Wenn einem jeder Muskel weh tut, weil man sich bei der Ernte verschiedener Währungen so sehr angestrengt hat, dann zweifelt man nicht daran, daß

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