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Die Stadt der Wahrheit

Die Stadt der Wahrheit

Titel: Die Stadt der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Geld auf den Bäumen wächst. Wenn die gesamte Haut gezeichnet ist von den Nachwirkungen von zweihundert Grad heißen Schneeflocken, dann bleibt einem nichts anderes übrig, als ihre Existenz anzunehmen. Wenn jedes Teilchen der Konzentration darauf konzentriert ist, ein geflügeltes Schwein vom Himmel zu schießen, stellt man den ontologischen Status seiner Spezies nicht in Frage.
     
    Das Hotel Paradies hatte nur einen einzigen Speisesaal, ein makellos sauberer Barraum, genannt Russischer Tee-Salon, und am Freitagabend führte uns Lucky dorthin zum Dinner aus. Schimmernde weiße Kacheln bedeckten die Wände. Die Hocker – mit roten vinylbezogenen Polstern, die auf leuchtenden Stahlgestellen thronten – ähnelten Art-Deco-Pilzen. Das Menü bot eine Vielfalt an ermordeter Kuh, mit beschönigenden Bezeichnungen wie ›Käse-Frikadellen‹, ›Hot Dogs‹, ›Hamburger‹ und ›Hackfleischröllchen‹. Lucky sagte, wir könnten bestellen, was wir wollten.
    »Ich habe euch ganz schön hart rangenommen«, gab er zu, nachdem unsere Speisen aufgetragen worden waren.
    »Eine Untertreibung«, erwiderte ich.
    Lucky drehte den Deckel von der Flasche Quasitomatenketchup aus Veritas. »Sagt mir, Männer, fühlt ihr euch irgendwie anders?«
    »Anders?« fragte Ira Temple, der gierig ein Hackfleischröllchen verschlang. »Eigentlich nicht.«
    William Bell biß in seine Käsefrikadelle. »Ich bin derselbe wie eh und je.«
    »Das Pensum für Samstag ist ziemlich umfangreich«, sagte Lucky, während er die Ketchup-Flasche schüttelte und blubbernde Kleckse auf seine Pommes frites goß. »Ihr werdet Zucker aus den Salzminen fördern, einem Sprachkurs mit Golden Retrievers beiwohnen und Ochsenkeulen zum Papst tragen, damit er sie segnet. Meine Erfahrung ist jedoch, wenn ihr bis jetzt noch keine Lügner seid, dann werdet ihr niemals welche werden.« Mit einer Direktheit, die man sonst in Satirev kaum antraf, blickte Lucky William in die Augen. »Was haben Schweine, mein Sohn?«
    »Hä?«
    »Schweine. Was haben die? Du hast dich doch gerade erst mit Schweinen beschäftigt – du kennst dich aus damit.«
    William hielt den Blick starr auf seine halbgegessene Kuh gerichtet. Er grübelte fast eine Minute lang über die Frage nach. Endlich hob er den Kopf, drückte die Augen fest zu und stieß eine Art entzückten Jubelruf auf, wie ihn vielleicht im Zeitalter der Lügen ein Kind am Heiligen Abend von sich gegeben haben mochte. »Schweine haben Fl-flügel.«
    »Was hast du gesagt?«
    »Fl-fl-flügel!« William sprang von seinem Stuhl auf und tanzte um den Tisch. »Flügel!« sang er. »Flügel! Schweine haben Flügel!«
    »Gut gemacht, William!« schrie Ira, und sein Gesicht drückte eine Mischung aus Neid und Eifer aus.
    Lucky lächelte, schob sich eine Pomme frite in den Mund und streckte seine Gabel in Richtung Ira. »Jetzt bist du dran. Erzähl mir was vom Geld, Ira. Wo wächst das Geld?«
    Ira holte tief Luft. »Nun, das ist keine leichte Frage. Einige Leute sagen, daß es überhaupt nicht wächst. Andere hingegen könnten anführen…«
    »Geld, mein Sohn. Wo wächst das Geld?«
    »Auf Bäumen!« schrie Ira plötzlich.
    »Wo?«
    »Geld wächst auf Bäumen!«
    »Und ich bin die Königin von Saba!« sagte William.
    »Ich bin der König von Frankreich!« sagte Ira.
    »Ich kann fliegen!« sagte Ira.
    »Gott beschützt die Unschuldigen!«
    »Jeder Schuldige bekommt seine Strafe!«
    »Liebe währt ewig!«
    »Das Leben ebenfalls!«
    Lucky legte mir die knorrige Hand auf die Schulter. »Wie ist das mit dem Schnee, Jack?« fragte er. »Wie ist Schnee?«
    Das angemessene Wort bildete sich in meinem Gehirn. Ich spürte, wie es mir auf der Zungenspitze lag wie ein Sandkorn. »Er ist… er ist…«
    »Ist er zum Beispiel heiß?« fragte Lucky.
    »Schnee ist h-h-h-«
    »Heiß?«
    »Kalt!« kreischte ich. »Schnee ist kalt.« Ich stöhnte auf.
    William warf mir einen todbringenden Blick zu. »Jack, du siehst das alles ganz falsch.«
    »Erinnerst du dich nicht an den Schneesturm?« fragte Ira.
    Ich schüttelte mich vor Übelkeit, mir schwindelte vor Geschlagenheit. Verdammt. »Das Zeug, das sie hier herstellen, ist unecht.« Jack Sperry war gegen die Xaviersche Seuche angetreten – und jetzt war die Krankheit im Begriff zu gewinnen. »Es ist überhaupt kein Schnee.«
    »Schnee ist heiß«, sagte Ira.
    »Er ist kalt!« Ich stand auf und wankte durch den Russischen Tee-Salon. »Schweine fliegen nicht. Hunde können nicht sprechen! Wahrheit ist

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