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Die Stadt und die Stadt

Die Stadt und die Stadt

Titel: Die Stadt und die Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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lange Sekunden die visuelle Gewichtung umgekehrt, sodass bei gleichbleibendem Panorama Besźel ins Ungefähre sank und Ul Qoma in den Vordergrund trat.
    Wie sollte man nicht an das Märchen denken, mit denen wir alle aufgewachsen waren und unsere Nachbarn wahrscheinlich auch? Ein Jüngling aus Ul Qoma und eine Maid aus Besźel begegnen sich in der Mitte der Kopula. Nach Hause zurückgekehrt stellen sie fest, dass sie reinräumlich Nachbarn sind. Sie leben ihr Leben in unwandelbarer Treue zueinander, erheben sich des Morgens zur gleichen Zeit, wandern auf deckungsgleichen Straßen Seite an Seite wie ein Paar, jeder in seiner Stadt, ohne je Grenzbruch zu begehen, berühren sich nicht, wechseln kein Wort über die Grenze hinweg.
    Andere volkstümliche Geschichten wussten von Renegaten zu berichten, die Grenzbruch begehen, Ahndung durch die Finger schlüpfen und zwischen den Städten ihr Leben fristen. Sie lernen, sich unauffällig zu machen bis zur Unsichtbarkeit und vermögen sich dadurch der Justiz und Bestrafung zu entziehen. Pahlaniuks Roman Tagebuch eines Zwischlers war in Besźel verboten (selbstredend in Ul Qoma ebenfalls), aber wie die meisten hatte ich eine aus dem Ausland hereingeschmuggelte Ausgabe gelesen, wenigstens flüchtig.
    Ich absolvierte die Tests, zeigte mit dem Cursor möglichst schnell auf einen qomanischen Tempel, einen Bürger Ul Qomas, einen qomanischen LKW, der Gemüse lieferte. Genaugenommen war die Aufgabe eine Beleidigung meiner Intelligenz: Man wollte mich dabei ertappen, dass ich unter Zeitdruck vergaß, Besźel zu nichtsehen. Bei meiner ersten Schulung war die Verfahrensweise noch eine andere gewesen. Es wurde nach dem typischen Volkscharakter der Qomani gefragt, und man musste auf Bildern mit stereotypisierten Physiognomien erkennen, wer Qomani war, Besź oder »Anderer« (Jude, Moslem, Russe, Grieche, was immer, abhängig davon, welcher Fremdenangst man aktuell huldigte).
    »Haben Sie den Tempel gesehen?«, erkundigte sich Dhatt. »Und das da war früher eine Schule. Das sind Wohnblocks.« Er stieß den Finger degengleich in die Richtung der Gebäude, an denen wir vorbeikamen, dirigierte seinen Fahrer - den er mir nicht vorgestellt hatte -, zu dieser und jener Sehenswürdigkeit.
    »Komisches Gefühl?«, fragte er. »Könnte mir vorstellen, dass man sich vorkommt wie im falschen Film.«
    Ja. Ich schaute mir an, worauf Dhatt meine Aufmerksamkeit lenkte. Selbstverständlich nichtsehend, konnte ich doch nicht anders, als die vertrauten Orte wahrzunehmen, die reinräumlich vorüberzogen, die heimatlichen Straßen, durch die ich regelmäßig ging, auf einmal eine ganze Stadt entfernt, bestimmte Cafés, in denen ich oft saß, auf einmal in einem anderen Land. Sie waren in den Hintergrund gerückt, unscheinbar wie Ul Qoma in Besźel. Mir stockte der Atem. Ich nichtsah Besźel. Ich hatte vergessen, wie das war, ich hatte es mir vorzustellen versucht und nicht gekonnt. Ich sah Ul Qoma.
    Es war Tag, und das Licht war das des bedeckten kalten Himmels, nicht der fantasievollen Neonschlängelungen, die ich in vielen Berichten über das Nachbarland gesehen hatte. Deren Autoren glaubten offenbar, Ul Qoma wäre für uns Zuschauer leichter fassbar im Gewand seiner bunten Leuchtreklamen-Nacht. Aber auch dieses aschgraue Tageslicht beleuchtete mehr und lebendigere Farben als in meinem alten Besźel. Ul Qomas Altstadt war in jüngster Vergangenheit wenigstens zur Hälfte zu einem Finanzdistrikt mutiert, man sah geschwungene, geschnitzte Holzdächer neben verspiegeltem Stahl. Die einheimischen Straßenhändler trugen Kaftan oder geflickte Hemden und Hosen, verkauften in den Portalen der gläsernen Wolkenkratzer Reis und Fleischspießchen an adrett gekleidete Männer und wenige Frauen (an denen vorbei meine unscheinbaren Landsleute, die ich zu nichtsehen versuchte, ihren weniger spektakulären Zielen in Besźel zustrebten).
    Nach mildem Tadel der UNESCO, einem erhobenen Zeigefinger in Verbindung mit irgendeinem europäischen Investment, hatte Ul Qoma jüngst seine Baugesetze strenger gefasst, um dem architektonischen Vandalismus entgegenzuwirken, der mit dem wirtschaftlichen Aufschwung einherging. Einige der ärgsten Stillosigkeiten hatte man sogar abreißen lassen, doch immer noch wurden die traditionellen barocken Ornamente der Häuser aus Ul Qomas guter alter Zeit von den riesenhaften jungen Nachbarn erdrückt. Wie alle Einwohner Besźels hatte ich mich daran gewöhnt, im fremden Schatten fremden Erfolgs

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