Die Stahlkönige
aber die Erfahrung hatte Shazad gelehrt, dass Ehre immer hinter der Selbsterhaltung zurückstehen musste. Wenn sie glaubten, die Politik der Königin gefährde ihren Besitz, würden sie sich mit dem Feind verbünden.
Die Hofdamen und Zofen erschienen. »Befreit mich von diesem Kleid!«, befahl sie.
Als Shazad aufstand, nahmen ihr geschickte Hände die schweren Gewänder ab und hüllten sie in ein leichtes Hauskleid. Die Schminkerin entfernte die dichte Farbschicht von ihrem Gesicht, und der Haarkünstler löste die komplizierte Frisur, indem er die unzähligen feinen Perlenschnüre und Goldketten entfernte, die in die langen Locken der Königin geflochten waren. Anschließend bürstete eine Zofe mit sanften Strichen durch die wallende Mähne der Herrscherin.
»Majestät«, sagte der Haarkünstler, »du solltest mir gestatten, ein wenig Farbe aufzutragen. Dein Haar ist wunderschön, und es ist nicht nötig, dass es seinen Glanz einbüßt, solange du noch so jung bist.«
»Nein«, antwortete Shazad entschieden. »Das war der Fehler meines Vaters. Er ließ die Menschen glauben, er wäre ewig jung. Solche Illusionen gestatte ich mir nicht. Alle müssen mir beteuern, dass ich jung und schön bin, auch wenn es nicht zutrifft – darauf kommt es an.«
Sie streckte die Hand mit dem Becher aus, der sofort gefüllt wurde. »Solange mir niemand ins Gesicht sagt, dass ich alt werde, fürchtet man mich noch.«
Sie verlangte nach einer Mahlzeit. Während ihre Zofen um sie herumschwirrten, verzehrte sie in Honig gebackenes Rebhuhn, Früchtekuchen und kandiertes Obst. Der Becher wurde immer wieder gefüllt.
»Äh … Majestät …«, begann Lady Zirta zögernd.
»Ich weiß, ich weiß! Ich bin zornig, und wenn ich zornig bin, esse und trinke ich zuviel. In der letzten Zeit war ich oft zornig, und deshalb lasst ihr immer wieder die Kleider weiter machen, ohne es mir zu sagen. Nun, es könnte schlimmer sein. Es ist noch gar nicht so lange her, da hätte ich ein halbes Dutzend Gardisten zu mir befohlen, um mir die Zeit zu vertreiben.«
Die Frauen brachen in hysterisches Gekicher aus. Die meisten von ihnen waren zu jung, um sich an die Zeit zu erinnern, als Prinzessin Shazads Name in ganz Neva für Verderbtheit stand. Gerüchte behaupteten, sie hätte ihren ersten Gemahl vergiftet, an schrecklichen Ritualen verbotener Kulte teilgenommen, Drogen genommen und eigenartige Liebesspiele praktiziert. Manches entsprach der Wahrheit, vieles wurde jedoch übertrieben.
Richtig war, dass sie nach und nach die Macht an sich gerissen hatte, als ihr Vater alt wurde, und seine verräterischen Ratgeber, Generäle und Admiräle töten ließ. Außerdem sorgte sie dafür, dass viele Adlige hingerichtet wurden, deren Treue und Ergebenheit zweifelhaft waren. Das alles stimmte, und nur wenige ihrer Untertanen beschwerten sich. Sie hatte aus einem disziplinlosen Haufen eine hervorragende Armee gemacht, der Flotte wieder zu neuem Glanz verholfen und dem Land zu einem Wohlstand, den es seit Jahrhunderten hatte entbehren müssen. Auch wenn die Ratgeber an ihr zweifelten: Die Treue und Ergebenheit des Volkes war ihr gewiss.
Nicht, dass ihr diese Treue in der bevorstehenden Krise viel nützen würde, dachte sie. Wo steckt Hael?
KAPITEL ELF
B ist du sicher, dass es der richtige Weg ist?«, wollte Hael wissen. Kairn und sein Vater waren den ganzen Morgen einem kaum sichtbaren Pfad gefolgt. Sie hatten die Cabos führen müssen, da der Dauerregen den Boden in eine glitschige Fläche verwandelt hatte. Sie durften nicht riskieren, durch ein lahmes Tier aufgehalten zu werden.
»Natürlich!«, bestätigte Kairn und schüttelte sich. Er war ziemlich sicher, dass es sich um die gleiche Abkürzung handelte, die man ihm vor einigen Tagen gezeigt hatte, aber im diffusen Licht des Regentages war es schwer zu sagen. Sie waren beide unter freiem Himmel aufgewachsen und daran gewöhnt, auch bei schweren Stürmen draußen zu sein, aber der Regen, der ohne Unterlass von den Blättern tropfte, stimmte sie missmutig.
»Wenn nicht, dann kann man uns hier jedenfalls nicht verfolgen oder unsere Spuren entdecken«, meinte Hael.
Kairn wusste, dass sein Vater Recht hatte. Am Vorabend hatten sie die Hauptstraße verlassen. Seit diesem Zeitpunkt hatte es ohne Unterlass geregnet und sämtliche Spuren davongeschwemmt. Hinter ihnen schnaubten und grunzten die unglücklichen Packtiere. Der Instinkt ließ die Cabos bei einem Regenguss still stehen, und sie hassten es,
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