Die starken Fesseln der Sehnsucht: Roman (German Edition)
erhob Mrs. Harris keine Einwände, wenn die Sklaven der Heiligen Jungfrau Maria Altäre bauten. Wie die Sklaven hatte auch sie Überzeugungen, die sie für sich behielt.
Eine der älteren Sklavinnen, die für Adia wie eine Tante war, erklärte ihr: »Dieser Altar trägt das Abbild der christlichen Muttergottes, in Wahrheit aber ist er ein Altar für Oshun, die große weibliche Gottheit meines Volkes.« Andächtig drapierte sie Blumen um die Marienstatue. »Während wir unsere Götter verehren, sehen unsere Herren, diese Narren, uns zu und lächeln, weil sie glauben, sie hätten ebenso unsere Herzen und Seelen gewonnen, wie sie sich unserer Körper bemächtigt haben.«
Während all dieser Jahre arbeitete und lernte Adia. Die wichtigste Lektion war, dass Sklaverei ein Unrecht war. Immer. Reuevoll erinnerte sie sich ihres früheren Glaubens, dass die von ihren eigenen Leuten praktizierte Versklavung von Kriegsgefangenen nicht so schlimm war, wie von zu Hause entführt und in ein fremdes Land gebracht zu werden. Heute wusste sie es besser. Sklaverei war immer verwerflich - ein Werk der finstersten Dämonen.
Ihr Hass auf ihre Knechtschaft war eine glimmende Flamme, die sie jedoch tief in sich vergrub. Denn wenn sie dem so lange in ihr aufgestauten Zorn erläge, würde er mit einer Gewaltsamkeit zum Ausbruch kommen, die ihr den Tod einbrächte. Jamaika hatte in der Vergangenheit schon Sklavenaufstände erlebt, und in der Zukunft würde es noch weitere geben. Nach getaner Tagesarbeit, wenn sich die Leute zum Reden und Geschichtenerzählen versammelten, sprachen sie von Tackys Rebellion, die vor mehreren Jahren stattgefunden hatte. Da auf der Insel nur wenige britische Truppen stationiert waren, hatte Harris zwanzig seiner getreuesten Sklaven bewaffnet, um die Rebellen zu bekämpfen. Die Männer hatten ihrem Herrn gedankt und ihre Hüte vor ihm gezogen - und waren prompt zu den Aufständischen übergelaufen.
Die Revolte war um den Preis Hunderter von Menschenleben niedergeschlagen worden. Später, als viele der Entlaufenen zurückkehrten, behaupteten sie, sie seien geflohen, um nicht gezwungen zu werden, sich den Rebellen anzuschließen. Andere erhängten sich lieber im Dschungel, als in die Sklaverei zurückzukehren. Adia konnte verstehen, warum sie das taten, aber sie würde immer das Leben und die Hoffnung wählen.
Ihre Lage verbesserte sich erneut, als Mrs. Harris eine neue Zofe für ihre Tochter Sophie benötigte. Die vorherige Zofe war so gedankenlos gewesen, einem Fieber zu erliegen, als Sophie gerade ins heiratsfähige Alter kam, und deshalb musste schleunigst für Ersatz gesorgt werden. Zur Verärgerung der Köchin wurde Adia ausgewählt, da sie jung und flink und präsentabel war. Sie erhielt den Rufnamen Addie, der ihrem eigenen Namen wenigstens nicht unähnlich war, und wurde von Mrs. Harris' eigener Zofe ausgebildet.
Sophie war die einzige Tochter der Harris', die allerdings drei Söhne hatten. Der älteste, Master Charlie, war ein temperamentvoller junger Mann, der oft ganze Scharen junger Leute in das Haus einlud. Einmal küsste er Adia auf der Hintertreppe, flüsterte ihr zu, wie hübsch sie sei und wie gern er mit ihr schlafen würde, aber er akzeptierte ihr entschiedenes Nein und belästigte sie nie wieder.
Es war nicht Master Charlie, der sie vergewaltigte, sondern einer seiner betrunkenen Freunde. Er war zu stark, um sich gegen ihn zur Wehr zu setzen, aber danach fertigte Adia ein mit seinem Samen bestrichenes Bildnis von ihm an und belegte ihn mit einem Fluch. Vielleicht war das der Grund für den schweren Reitunfall, den der junge Teufel nicht lange danach hatte. Unter den Sklaven wurde getuschelt, er sei seitdem nicht mehr in der Lage, eine Frau zu nehmen. Adia konnte es nur hoffen.
Sie fertigte auch ein mit Schutzzaubern belegtes Perlenarmband für sich selbst an, das ihre Attraktivität für Männer verringern sollte. Adia wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich bei der Herrschaft zu beschweren, aber mit den Schutzzaubern und ihren eigenen Vorsichtsmaßnahmen wurde sie wenigstens nicht mehr missbraucht.
Master Charlie fehlte ihr sogar ein wenig, als er nach England reiste, um in Cambridge zu studieren, doch es lebten ja noch zwei weitere junge Herren im Haus. Besonders der Jüngste, Tommy, war ihr sehr ans Herz gewachsen, weil er sie an Chike erinnerte.
Im Haus zu arbeiten, war in vielerlei Hinsicht wertvoll, nicht zuletzt, weil Adia mit viel mehr weißen Menschen zusammentraf. Sie machte
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