Die starken Fesseln der Sehnsucht: Roman (German Edition)
die Erfahrung, dass sie gar nicht mal so anders waren als Schwarze. Macht über Sklaven zu besitzen, brachte in manchen Menschen das Schlimmste zum Vorschein, und die meisten Weißen hielten die Sklaverei für richtig und natürlich, doch die Mehrheit war nicht schlecht. Die Elite unter den Iske, die sich Sklaven hielt, hatte sich nicht viel anders als die weißen Sklavenhalter verhalten.
Für Mr. Harris waren Sklaven keine Menschen wie er selbst, aber er schätzte sie immerhin genauso hoch wie ein gutes Pferd. Er entließ einen weißen Aufseher, der einen Mühlensklaven zu Tode gepeitscht hatte. Dieser Aufseher wurde prompt von einem anderen Plantagenbesitzer übernommen, dem »der strenge Umgang mit Niggern« dieses Mannes gefiel. Ein Jahr später wurde der Aufseher von zwei Sklaven umgebracht, die danach in die Berge flohen und sich einer Gemeinde freier Schwarzer anschlossen. Jeder Sklave auf Jamaika feierte die Tat im Stillen.
Mit der Zeit erkannte Adia, dass sie ihren Hass auf die Sklaverei als solche richten sollte, denn sie schaffte Böses ganz allein durch ihre Existenz. Die einzelnen Sklavenhalter und Aufseher würde sie nach ihren eigenen Sünden und Tugenden beurteilen. Und sie lauschte eifrig jedem Weißen, der in ihre Nähe kam, um ihr Englisch zu verbessern.
Miss Sophie war ein schüchternes Mädchen, das ungefähr im gleichen Alter war wie Adia. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, ihre Kleider selbst wegzuräumen, und stellte hohe Anforderungen, aber im Allgemeinen war sie ein gutmütiger Mensch und machte sich keinen Spaß daraus, ihre Zofe unnötigerweise herumzuscheuchen. Adia hörte Geschichten von anderen Zofen, wenn deren Herrinnen zu Besuch waren, und war froh und dankbar, dass Miss Sophie von solch angenehmem Wesen war.
Noch dankbarer war sie, als Miss Sophie ihr das größte Geschenk machte, das Adia je erhalten hatte. Es begann, als Miss Sophie an ihrem Schlafzimmerfenster saß, in einer Londoner Zeitung las und sich an der kühlen Brise von der See erfreute. Nachdem sie ihre Lektüre beendet hatte, faltete sie die Zeitung zusammen und legte sie beiseite. »Manchmal frage ich mich, wie es wäre, die Nachrichten zu lesen, wenn sie noch neu sind statt zwei oder drei Monate alt.«
»Nicht viel anders, Miss. Tut einfach so, als wäre es noch April statt Juni.« Adia unterdrückte ihren Neid und blickte von dem Strumpf auf, den sie stopfte. »Es muss wie Zauberei sein, diese schwarzen Zeichen auf Papier zu sehen und so viel aus ihnen zu erfahren.«
Miss Sophie machte ein nachdenkliches Gesicht. »Einen gewissen Zauber muss es wohl haben, wenn das Lesen der Zeitungen mir England so lebendig macht, obwohl ich noch nie dort war.« Ihre Miene hellte sich auf. »Möchtest du lesen lernen, Addie? Es wäre interessant zu sehen, ob du dazu in der Lage bist.«
Adias freudige Erregung überwog ihren Ärger über die Unterstellung ihrer Herrin, dass eine Sklavin vielleicht gar nicht die Fähigkeit besaß zu lernen. Sie wollte unbedingt lesen und schreiben lernen, denn Bildung war ein Weg zur Macht. »Das würde ich furchtbar gern, Miss Sophie, doch ich möchte nicht, dass Ihr Schwierigkeiten bekommt, weil Ihr eine Sklavin unterrichtet.«
Miss Sophie zuckte die Schultern. »Dann erzählen wir es eben niemandem. Bring mir meine Tafel und Kreide, danach können wir gleich mit dem Alphabet beginnen.«
Zum Glück erwies sich Adia als so gute Schülerin, dass Miss Sophie des Unterrichts nie überdrüssig wurde. Tatsächlich war Adia sogar so begabt, dass ihre Herrin während der dritten Unterrichtsstunde, als Adia schon kleine Sätze zu lesen lernte, stirnrunzelnd bemerkte: »Du lernst sehr schnell, Addie. Schneller, als ich selbst gelernt habe.«
Gott bewahre, dass eine Sklavin intelligenter wäre als eine Herrin! »›Ich bin ja auch älter«, erwiderte Adia bescheiden. »Ein kleines Kind hat nicht die gleiche Bereitwilligkeit zu lernen.«
Solcherart beruhigt, nahm Miss Sophie den Unterricht wieder auf, und von da an achtete Adia darauf, nicht mehr ganz so schnell zu sein. Sie erzählte auch niemandem, nicht einmal ihren engsten Freunden, was sie lernte. Miss Sophie könnte dafür gescholten werden, eine Sklavin zu unterrichten, aber Adia würde vielleicht sogar getötet werden, wenn das mit dem Unterricht herauskam.
Bücher waren rar und teuer, deshalb konnte Adia nicht riskieren, sich andere auszuborgen als die wenigen, die Miss Sophie gehörten. Die Harris' erhielten jedoch ganze Bündel
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