Die starken Fesseln der Sehnsucht: Roman (German Edition)
hier?« Nikolai deutete mit dem Schwert auf einen anderen Seeräuber, einen hageren Mann mit gehetztem Blick.
Eins der Besatzungsmitglieder der Justice zog ihn zum Urteilsspruch nach vorn. Zuerst herrschte nur Schweigen, doch dann sagte einer der Ruderer zögernd: »Nazeer hat mir mehr Wasser gegeben, als erlaubt war, wenn Hassan es nicht sah.«
Mehrere der anderen nickten. »Einmal hat Hassan ihm befohlen, mich auszupeitschen«, berichtete ein anderer, »aber Nazeer hat nicht sehr fest zugeschlagen.«
»Das stimmt, ihm machte es keinen Spaß, uns zu verletzen«, stimmte ein dritter Mann zu. »Einmal bin ich zusammengebrochen, und Hassan wollte mich über Bord werfen lassen, aber Nazeer sagte, ich hätte noch einige gute Jahre vor mir. Er gab mir Brot und ein Stück von seinem eigenen Fisch und erlaubte mir, mich auszuruhen.«
»Also ist er kein so schlechter Mensch.« Gregorio wies auf eine andere Stelle an der Reling, zu der Nazeer gebracht und unter Bewachung gestellt wurde.
Jean beobachtete fasziniert, wie jeder Pirat den freigelassenen Sklaven vorgeführt wurde. Einige der Ruderer wollten so viel Blut wie möglich sehen, aber Gregorio stellte immer wieder neue Fragen, bis allgemeines Einverständnis über die Verhaltensweise jedes überlebenden Piraten herrschte. Eine Hand voll wurde zu Nazeer gebracht, als Männer, die Barmherzigkeit gezeigt hatten, sofern es ihnen möglich gewesen war. Eine größere Anzahl wurde als neutral beurteilt - sie waren nicht freundlich, aber auch nicht grausam gewesen.
Die verbliebenen Korsaren, etwa ein Drittel der Gefangenen, wurden der Gewalttätigkeit und Brutalität bezichtigt. In allen Fällen wurden mehrfache Beschuldigungen wegen niederträchtigen Verhaltens gegen sie erhoben, und keiner hatte etwas zu ihrer Verteidigung zu sagen. Die überlebenden Sklaven sprachen für die Toten, die Opfer dieser Männer gewesen waren.
Als der letzte Seeräuber abgeurteilt war, sagte Gregorio zu den Gefangenen: »Diejenigen, die als anständig befunden wurden, werden zu einem arabischen Hafen gebracht. Ich würde vorschlagen, dass ihr euch eine andere Art von Arbeit sucht. Denn sollte ich euch noch einmal auf einem Sklavenschiff entdecken, werde ich nicht so gnädig sein. Was den Rest angeht ...« Sein mitleidloser Blick richtete sich auf die Piraten, die als durch und durch verdorben eingestuft worden waren. »Übergebt sie einen nach dem anderen den befreiten Sklaven.«
Hassan, der Aufseher, wurde durch den Gang zwischen den Ruderbänken gestoßen. Er schrie und versuchte wegzurennen, doch innerhalb von Sekunden verschwand er unter einer Masse brüllender, wutschäumender Sklaven.
Sein Geschrei verstummte abrupt.
Jean, der sich der Magen umdrehte, fuhr herum und kletterte auf die Justice, ohne sich um das Risiko zu scheren, zwischen die beiden Schiffsbäuche zu stürzen. Sie war schon an der Leiter, die zu den Kabinen hinunterführte, als Gregorio sie einholte.
»Missbilligt Ihr meine Rechtsprechung?«, erkundigte er sich milde.
Jean atmete tief ein und zwang sich, an etwas anderes zu denken als an prügelnde Hände und gnadenlose Tritte. »Ich ... ich weiß es nicht. Der Aufseher und viele seiner Untergebenen haben entsetzliche Verbrechen begangen. Da mag es vielleicht nur gerecht sein, ihren Opfern die Bestrafung dieser Männer zu überlassen. Doch mein Magen ist nicht stark genug, um mir das anzusehen. Es erscheint mir nicht richtig, dass sie nicht vor ein ordentliches Gericht gestellt wurden.«
»Wie überaus britisch von Euch. Kein Gericht würde ein zutreffenderes Urteil fällen als ihre Opfer, und eine sofortige Exekution erspart uns Lebensmittel.« Eine etwas boshafte Belustigung funkelte in seinen dunklen Augen. Es machte ihm offenbar Spaß, sie zu schockieren. »Sie werden schnell sterben«, fuhr er fort. »Das ist mehr Barmherzigkeit, als die meisten von ihnen ihren Opfern gewährt haben.«
»Aber warum erhängt oder erschießt Ihr sie nicht? Das ginge sogar noch schneller.«
Gregorio schüttelte den Kopf. »Die Galeerensklaven waren seit ihrer Gefangennahme völlig machtlos. Heute haben sie wieder Macht.«
Jean hörte das Gebrüll der Ruderer, als ein weiterer verurteilter Pirat ihnen übergeben wurde. »Ich glaube, das kann ich verstehen, aber das Ganze ist so ... barbarisch.«
Sein Gesicht verzog sich zu einem spöttischen Lächeln. »Die wahre Barbarei ist Sklaverei. Zu behaupten, ein Mensch habe das Recht, andere zu besitzen, wäre ein Affront gegen einen
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